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2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen | 171
zentrale Topos in Bilgers Leben, verstärkt durch Nationalsozialismus und Krieg,
oder wie Bilger formulierte: „Die Einsamkeit war verdoppelt durch die erschüttern-
den Ideologien und den Krieg.“282 Hinter den „erschütternden Ideologien“, die Bil-
ger hier nicht beim Namen nannte, stand der Nationalsozialismus. Bilgers Verhält-
nis zum Nationalsozialismus war während der 1930er-Jahre relativ unentschlossen,
entwickelte sich aber immer deutlicher zu einer Distanzierung und Ablehnung.283
Als Reaktion auf die durch Nationalsozialismus und Krieg verstärkte Einsam-
keit beschrieb Bilger ihren Rückzug ins Innere. Die mit Vorsicht zu gebrauchende
Formulierung von der „Inneren Emigration“ kann für Margret Bilger in ihrer gan-
zen Ambivalenz angewandt werden.284 Der Rückzug und die totale Besinnung auf
sich selbst brachten sie gleichzeitig aber auch zu dem, was ihren künstlerischen Weg
schließlich prägen und bald auch zu äußerem Erfolg führen sollte. In den frühen
1940er-Jahren fand sie ihre Themen und ihre Technik:
„Ich fand in Bibel, Märchen und Volkslied mein inneres Erlebnis in Worte gefaßt. Das lang
im Innern getragene seelische Erlebnis riß die Hand plötzlich, wie von selbst in das Holz
ein, sodaß ich öfter selbst staunte über das Gebilde ohne meinen Willen. Ich nannte diesen
Vorgang ‚Holzriß.‘“285
Diese Passage des Lebensberichts informiert nicht nur darüber, wie Margret Bilger
zu ihrem künstlerisch eigenständigsten Arbeiten, der von ihr entwickelten Technik
des „Holzrisses“, eine Variante des Holzschnitts, gefunden hatte –, interessant er-
scheint auch, mit welchen Formulierungen sie dieses Erlebnis beschrieb: „Wie von
selbst“ habe die Hand in das Holz gerissen, Gebilde seien „ohne Willen“ entstanden.
Damit findet sich nun auch in Bilgers Lebensbericht ein zentrales Künstlernarrativ,
in dem das Schöpferische-Kreative als unbewusste, innere Handlung erscheint, als
etwas, das im Künstler „da“ ist und nur einen Weg nach außen finden muss.
In den nachfolgenden Absätzen des Lebensberichts scheinen sich die Zeitebe-
nen zu überlappen: Bilger beschrieb zunächst den auf das starke Erlebnis der ersten
„Holzrisse“ einsetzenden – zweifellos länger dauernden – Prozess („In der Arbeit
282 Bilger, Lebensbericht, 28.
283 Vgl. Eisenhut, Margret Bilger, 159 sowie Kapitel 4.4.4.
284 Zum Begriff der „Inneren Emigration“ vgl. u.a. Anna Mitgutsch, Die Grenzen der Integrität. Über-
legungen zur Situation der Künstler und Schriftsteller in totalitären Systemen, in: Kirchmayr (Hg.),
„Kulturhauptstadt des Führers“, 17–32. Mitgutsch sieht den Begriff kritisch und bezeichnet ihn als
„trotzige Aufwertung derer, die im ‚Dritten Reich‘ schrieben und publizierten, wenn auch vielleicht
nicht ausdrücklich als Parteimitglieder oder im Dienst seiner Ideologie“. Ebd., 17.
285 Bilger, Lebensbericht, 26.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463