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Diskurse182
Politik, Religion und Kunst. […] W ist nichts als Sexualität, M ist sexuell und noch etwas
darüber.“10
Weininger konnte auf ein Umfeld bauen, das zur selben Zeit auch im medizinisch-
naturwissenschaftlichen Feld in einer pathologisierenden Argumentation den
Nachweis für eine geringere intellektuelle Kapazität von Frauen zu erbringen such-
te.11 Eine vehemente Infragestellung solcher Thesen und Schriften kam von der
frauenbewegten Schriftstellerin Rosa Mayreder. In ihrem Hauptwerk, den Essays
„Zur Kritik der Weiblichkeit“, stellte sie ebenfalls die Frage nach dem Wesen der Ge-
schlechter und lieferte damit explizit ihren männlichen Kollegen eine Entgegnung.
Ihre einleitende Fragestellung zielte auf das Grundproblem der angeblichen Deter-
miniertheit von Frauen innerhalb geschlechtlicher Zuschreibungen, die Frauen aus
den Sphären geistiger Beschäftigung ausschloss und gleichzeitig auch jegliche Indi-
vidualität absprach. Mayreder machte zur Frage, was von Weininger und Kollegen
längst apodiktisch beantwortet zu sein schien:
„Das Problem der Geschlechtspsychologie, in deren Vordergrund die Weiblichkeit steht,
bewegt sich der Hauptsache nach um die Frage: Ist das Weib als Persönlichkeit durch das
Geschlecht an eine bestimmt umschriebene Geistigkeit gebunden, oder liegt in der weib-
lichen Psyche die gleiche Möglichkeit einer unbeschränkten Differenzierung nach Indivi-
dualität wie in der männlichen?“12
Nicht nur männliche Wissenschafter, auch Strömungen innerhalb der zeitgenössi-
schen Frauenbewegung(en) übernahmen die scheinbar qua natura vorgegebenen
Geschlechtszuordnungen, ohne diese prinzipiell zu hinterfragen. Sie versuchten je-
doch, damit verbundene Wertigkeiten in Frage zu stellen oder zu ändern, indem sie
beispielsweise das weibliche Prinzip der Mütterlichkeit moralisch über so genannte
männliche Prinzipien stellten.13
Die Vorstellung einer Geschlechterpolarität, die zwischen Mann/Kultur und Frau/
Natur unterschied, hatte selbstverständlich auch Einfluss im Bereich des Kunst- und
Kulturlebens, in dem Frauen nur bestimmte Rollen zugestanden wurden, und das
10 Weininger, Geschlecht und Charakter, 112 f.
11 Vgl. u.a. Paul J. Möbius, Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes, Halle 1900.
12 Rosa Mayreder, Zur Kritik der Weiblichkeit, Jena 1909, 7.
13 Zu dem vor allem von der bürgerlichen Frauenbewegung vertretenen Prinzip der „geistigen Müt-
terlichkeit“ vgl. u.a. Barbara Vinken, Die deutsche Mutter. Der lange Schatten eines Mythos, Mün-
chen 2001, 205 ff. Die dort geschilderten Positionen der deutschen bürgerlichen Frauenbewegung
können durchaus auf die österreichische Situation übertragen werden.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463