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3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts | 189
geradezu idealtypisch in eine Argumentationslinie, nach der männliche Misogynie
durch eine scheinbare sexuelle Übermacht von Frauen erklärt wird.37 So interpre-
tierte auch der Historiker Ernst Hanisch Otto Weiningers „Geschlecht und Charak-
ter“ als „verzweifelten männlichen Hilfeschrei“, „als Ausdruck der Urangst vor der
Frau, als einzigartiger Protest gegen die Verweiblichung, letztlich: als Eingeständnis
der Schwäche“.38
In Hinblick auf die oben zitierte Erzählung der angeblichen Manipulation durch
eine schwangere Frau erweist sich eine weitere autobiographische Äußerung Kubins,
die bislang in der Kubin-Biographik nicht in Zusammenhang damit gebracht wurde,
als sehr aufschlussreich. So habe Kubin seinem Wernsteiner Hausarzt, mit dem er
speziell in seinen späteren Lebensjahren sehr vertraut war, folgendes erzählt:
„Vaters neue Frau, unsere Tante, die von ihm ein Kind unterm Herzen trug, erschreckte
mich alsbald mit ihrem dicken Bauch. Als Kind habe ich die Aufforderung meiner Stief-
mutter, ihren Bauch zu berühren und das neue Geschwisterchen darin zu fühlen, wohl
fehl verstanden. Ich spürte seine Bewegungen und erschrak, weil ich meinte, sie hätte ein
lebendiges Kind verspeist. Ab da mochte ich auch die Stiefmutter nicht mehr leiden.“39
Es lässt sich nicht belegen, erscheint aber zumindest denkbar, dass diese Begeben-
heit, also die eigentlich harmlose, hinsichtlich der Unaufgeklärtheit des Kindes
aber wohl nicht besonders überdachte Aufforderung von Kubins Stiefmutter, ihren
Bauch zu berühren, um das Kind darin zu fühlen, der Hintergrund für jene Episode
war, die in der auto/biographischen Darstellung zu einem Quasi-Missbrauch einer
„älteren“ Frau an dem jungen Knaben mit traumatischen Folgen stilisiert wurde.
Das Motiv von schwangeren Frauen ist in Kubins Frühwerk zentral, ebenso wie
sexuelle Darstellungen, die von Aggressivität und Macht-Ohnmacht-Konstellatio-
37 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass auch in der autobiographischen Darstellung Oskar
Kokoschkas ein Schlüsselerlebnis in der Kindheit angeführt wird, das mit Schwangerschaft und
Geburt zu tun hat: So wie Kubin von einer schwangeren Frau verstört worden sein soll, habe es bei
Kokoschka nachhaltige Verstörung ausgelöst, dass er bei einer „Sturzgeburt“ seiner Mutter Zeuge
gewesen sei. Vgl. OK an Erwin Lang, [Februar/März 1908], zit. nach Olda Kokoschka/Heinz Spiel-
mann (Hg.), Oskar Kokoschka. Briefe I. 1905–1919, Düsseldorf 1984, 9.
38 Ernst Hanisch, Männlichkeiten. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts, Wien 2005, 28.
39 Jutta Mairinger, Meine Verehrung, Herr Kubin! Geschichten aus Zwickledt, Wernstein 2000, 19.
Bei Mairingers Buch handelt es sich um eine Anekdotensammlung. Methodisch muss daher an-
gemerkt werden, dass die dort wiedergegebenen Aussagen Kubins auf Erzählungen von Menschen
aus Kubins Umgebung, vor allem der Haushälterin Cilli Lindinger und des Hausarztes Alois Be-
ham beruhen, die wiederum mündlich an die Autorin Jutta Mairinger überliefert wurden.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463