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Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
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3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20.  Jahrhunderts | 189 geradezu idealtypisch in eine Argumentationslinie, nach der männliche Misogynie durch eine scheinbare sexuelle Übermacht von Frauen erklärt wird.37 So interpre- tierte auch der Historiker Ernst Hanisch Otto Weiningers „Geschlecht und Charak- ter“ als „verzweifelten männlichen Hilfeschrei“, „als Ausdruck der Urangst vor der Frau, als einzigartiger Protest gegen die Verweiblichung, letztlich: als Eingeständnis der Schwäche“.38 In Hinblick auf die oben zitierte Erzählung der angeblichen Manipulation durch eine schwangere Frau erweist sich eine weitere autobiographische Äußerung Kubins, die bislang in der Kubin-Biographik nicht in Zusammenhang damit gebracht wurde, als sehr aufschlussreich. So habe Kubin seinem Wernsteiner Hausarzt, mit dem er speziell in seinen späteren Lebensjahren sehr vertraut war, folgendes erzählt: „Vaters neue Frau, unsere Tante, die von ihm ein Kind unterm Herzen trug, erschreckte mich alsbald mit ihrem dicken Bauch. Als Kind habe ich die Aufforderung meiner Stief- mutter, ihren Bauch zu berühren und das neue Geschwisterchen darin zu fühlen, wohl fehl verstanden. Ich spürte seine Bewegungen und erschrak, weil ich meinte, sie hätte ein lebendiges Kind verspeist. Ab da mochte ich auch die Stiefmutter nicht mehr leiden.“39 Es lässt sich nicht belegen, erscheint aber zumindest denkbar, dass diese Begeben- heit, also die eigentlich harmlose, hinsichtlich der Unaufgeklärtheit des Kindes aber wohl nicht besonders überdachte Aufforderung von Kubins Stiefmutter, ihren Bauch zu berühren, um das Kind darin zu fühlen, der Hintergrund für jene Episode war, die in der auto/biographischen Darstellung zu einem Quasi-Missbrauch einer „älteren“ Frau an dem jungen Knaben mit traumatischen Folgen stilisiert wurde. Das Motiv von schwangeren Frauen ist in Kubins Frühwerk zentral, ebenso wie sexuelle Darstellungen, die von Aggressivität und Macht-Ohnmacht-Konstellatio- 37 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass auch in der autobiographischen Darstellung Oskar Kokoschkas ein Schlüsselerlebnis in der Kindheit angeführt wird, das mit Schwangerschaft und Geburt zu tun hat: So wie Kubin von einer schwangeren Frau verstört worden sein soll, habe es bei Kokoschka nachhaltige Verstörung ausgelöst, dass er bei einer „Sturzgeburt“ seiner Mutter Zeuge gewesen sei. Vgl. OK an Erwin Lang, [Februar/März 1908], zit. nach Olda Kokoschka/Heinz Spiel- mann (Hg.), Oskar Kokoschka. Briefe I. 1905–1919, Düsseldorf 1984, 9. 38 Ernst Hanisch, Männlichkeiten. Eine andere Geschichte des 20.  Jahrhunderts, Wien 2005, 28. 39 Jutta Mairinger, Meine Verehrung, Herr Kubin! Geschichten aus Zwickledt, Wernstein 2000, 19. Bei Mairingers Buch handelt es sich um eine Anekdotensammlung. Methodisch muss daher an- gemerkt werden, dass die dort wiedergegebenen Aussagen Kubins auf Erzählungen von Menschen aus Kubins Umgebung, vor allem der Haushälterin Cilli Lindinger und des Hausarztes Alois Be- ham beruhen, die wiederum mündlich an die Autorin Jutta Mairinger überliefert wurden. Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
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Zeitwesen Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
Title
Zeitwesen
Subtitle
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
Author
Birgit Kirchmayr
Publisher
Böhlau Verlag
Location
Wien
Date
2020
Language
German
License
CC BY 4.0
ISBN
978-3-205-23310-7
Size
17.3 x 24.5 cm
Pages
468
Category
Kunst und Kultur

Table of contents

  1. Einleitung 11
  2. Fragestellung und Ausgangsthesen 11
  3. Theoretische Bezugsrahmen 14
  4. Quellen 17
  5. „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
  6. 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
    1. 1.1 Auto/Biographieforschung 33
      1. 1.1.1 Lebenslauf, Biographie, Autobiographie oder Auto/Biographie? 34
      2. 1.1.2 Auto/Biographie und Geschichtswissenschaft 39
      3. 1.1.3 Auto/Biographie und Geschlecht 47
    2. 1.2 Künstlerauto/biographie 51
      1. 1.2.1 Von Vasaris Viten bis „Inventing Leonardo“: Zur Geschichte der Künstlerbiographik 51
      2. 1.2.2 „Biographische Formeln“: Die „Legende vom Künstler“ 54
      3. 1.2.3 Geniekonzept und Autobiographical Life 59
    3. 1.3 Auto/Biographische Quellen 63
      1. 1.3.1 Autobiographie 65
      2. 1.3.2 Brief 66
      3. 1.3.3 Tagebuch 72
  7. 2 KünstlerInnen über sich 79
    1. 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
      1. 2.1.1 Der Künstler, sein Archivar und sein Nachlass 80
      2. 2.1.2 Die Autobiographie „Aus meinem Leben“ (1911–1952) 83
    2. 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
      1. 2.2.1 Der Künstler als Erzähler 105
      2. 2.2.2 Die Autobiographie „Mein Leben“ (1971) 109
    3. 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
      1. 2.3.1 Autobiographisches in Tagebüchern und Briefen 136
      2. 2.3.2 „Biographische Notizen“ (1929) 138
    4. 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
      1. 2.4.1 Erklärungen zu einem Negativbefund 150
      2. 2.4.2 Die „Klessheimer Sendboten“ (1927) 154
    5. 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
      1. 2.5.1 Versuch einer Verweigerung 164
      2. 2.5.2 Der „Lebensbericht“ (1968) 166
    6. 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
  8. 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
    1. 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
      1. 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
      2. 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
      3. 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
      4. 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
    2. 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
      1. 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
      2. 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
      3. 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
      4. 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
    3. 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
      1. 3.3.1 Alfred Kubin: Von der Ariosophie zum Buddhismus 277
      2. 3.3.2 Aloys Wach, die Kabbala und Jesus Christus als „Okkultist“ . . . . . . . 284 Exkurs: Die „Affäre Schappeller“ 291
    4. 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
  9. 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
    1. 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
    2. 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
      1. 4.2.1 Kubin, der Krieg und das Ende der „alten Ruhe“ 321
      2. 4.2.2 „Ich bin so froh, dass ich noch lebe“: Oskar Kokoschka und der Erste Weltkrieg 328
    3. 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
      1. 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
      2. 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
      3. 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
      4. 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
    4. 4.4 Nationalsozialismus 382
      1. 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
      2. 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
      3. 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
      4. 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
    5. 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
  10. Dank 426
  11. Abkürzungsverzeichnis 428
  12. Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
  13. Quellen- und Literaturverzeichnis 431
  14. Archive und Sammlungen 431
  15. Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
  16. Literatur und gedruckte Quellen 432
  17. Personenregister 463
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