Page - 193 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
Image of the Page - 193 -
Text of the Page - 193 -
3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts | 193
derb.50 In ihrer sexuellen Aggressivität korrespondieren manche Aussagen mit den
misogynen Zeichnungen jener Jahre knapp nach der Jahrhundertwende. So schrieb
Kubin im Jahr 1902 an seinen Freund Hans von Müller:
„Ich bin ganz apathisch geworden ... Dazu noch Ekel vor all den echten Weibern, die mir
zur Verfügung ständen, und eine namenlose Sehnsucht nach einem besseren Weib. – Ich
wälze die unerhörtesten Vernichtungsgedanken in meinem armen Hirn. – einen grässli-
chen Hass gegen die Menschen – will mich zu Tode onanieren usw.“51
Während Kubin gleichzeitig seinen Ekel vor Frauen postulierte, dominierte in den
Briefen an seine Freunde die Frage nach der „Verfügbarkeit“ von Sexualpartnerin-
nen. Besonders in den Briefen, die er aus Schärding schrieb, klagte er darüber, dies-
bezüglich am Land wenig Gelegenheiten zu haben. In einem Brief des Frühjahrs
1901 hieß es:
„Schärding, 9.4.1901, Theuerster! Gruß aus dem Exil. [...] Dem Schicksal sei’s gedankt,
daß ich meine Arbeitslust wieder gefunden habe, ich bin fleißig. Einstweilen bereitet mir
großes Vergnügen die zarten Beziehungen, welche ich zu unserem neuen netten Stuben-
mädchen ‚Rosa‘ geknüpft habe (groß, schwarz, sehr üppig). Schade, daß man so ungemein
vorsichtig sein muß, Mama und 3 Schwestern = 8 Argusaugen, daher auch über Kuss und
Obergriff noch nicht hinaus. Teufel – wenn ich zum Fick komme, drei Kerzen opfere ich
der heil. Jungfrau auf.“52
Ähnlich in einem Schreiben vom März 1903 an Hans von Weber:
„Leider ist das uneheliche Liebesleben in Schärding wohl wenig entwickelt und meine
einzige Reserve unsere Köchin will ich noch nicht antasten, [...] ausserdem sieht sie so aus
[Anm.: Verweis auf drei beigefügte Skizzen] Du siehst wir würden nur schlecht zusam-
menpassen. – Freu mich auf Dich, fährst Du also doch nicht in die italienischen Pude-
50 Zu Recht weist Annegret Hoberg darauf hin, dass die bisher edierten Korrespondenzen Kubins fast
ausschließlich die zweite Lebenshälfte betreffen, wodurch zumindest eine Leerstelle, im Gesamt-
bild aber auch eine gewisse Schieflage entsteht. Vgl. Annegret Hoberg, Der Briefschreiber Alfred
Kubin, in: Assmann (Hg.), Kubin handschriftlich, 27–45, 31.
51 Kubin-Archiv München, AK an Hans von Müller, 23.11.1902. Auch zit. in Peter Assmann, Alfred
Kubin, handschriftliche Graphiken im vollen Wortsinn …, in: Assmann (Hg.), Kubin handschrift-
lich, 9–22, 18.
52 AK an unbekannt, Schärding 9.4.1901 (Fragment eines Briefes aus dem Bestand der Bayerischen
Staatsbibliothek), zit. nach Peters/Brockhaus (Hg.), Alfred Kubin, 15.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463