Page - 196 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
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Diskurse196
nach der unverheiratete, junge Männer als die gefährdeten und „leicht zugängliche
Frauenspersonen“ als die übertragenden Personen galten.62
Zurückprojiziert auf die Fragestellung nach der Misogynie der Moderne und im
Konkreten auf den Frauenhass bei Alfred Kubin, lassen sich mehrere Topoi über
dieses Bedrohungsszenario zumindest teilweise erklären. Der todbringende Koitus,
die todbringende Frau – unter Berücksichtigung des Diskurses um sexuell über-
tragbare, im schlimmsten Fall tatsächlich todbringende Erkrankungen bekommen
die Bilder Kubins mit diesen Sujets eine sehr reale Dimension, die nicht unbedingt
einer psychoanalytischen Deutung bedarf.63 Mehrere Blätter Kubins, die vermut-
lich für die „Weiber-Mappe“ vorgesehen waren, beziehen sich nicht nur indirekt,
sondern direkt auf die bedrohliche Krankheit. Eine Zeichnung, die mit 1900/1901
datiert wird, trägt den Titel „Syphilis“ und stellt „in der klassischen Tradition der
Venusdarstellung“ eine offenbar an Syphilis leidende Frau dar.64 Am oberen Rand
des Bildes befindet sich die Inschrift „Betet für mich“, die Frau selbst, neben ihr
eine Katze, scheint bei lebendigem Leib zu verfaulen, aus ihrem Bauch ragt ein lan-
ger schlauchartiger Darm, der das todbringende Innere nach außen weiterverteilt.65
Kubin fertigte auch eine Mappe mit neun Zeichnungen zu Oskar Panizzas Stück
„Das Liebeskonzil“ (1894), das skandalisierende Syphilis-Drama, für das der Autor
wegen Blasphemie zu einem Jahr Haft verurteilt wurde. Die betreffende Mappe ließ
Kubin in einer Ausgabe von zehn Exemplaren für sich und Freunde in Privatdruck
herstellen.66
Nicht nur in Kubins Werk, auch in seinem Leben gab es einen direkten Syphilis-
Bezug. Kubins Ehefrau Hedwig schrieb in ihrer beeindruckenden, leider bislang un-
veröffentlichten Autobiographie darüber, dass ihr erster Ehemann Otto Gründler
an den Folgen einer Syphiliserkrankung, die er sich vor seiner Hochzeit zugezogen
62 Sabisch, Das Weib als Versuchsperson, 40.
63 Damit soll kein eindimensionales Erklärungsschema angeboten werden und die Misogynie der
Moderne auf die Bedrohung durch Syphilis reduziert werden, zumal die Thematik ja auch um-
gekehrt gesehen werden kann (und auch wurde), wenn zum Beispiel britische Suffragetten Be-
strebungen zur Bekämpfung der Syphilis als Schutz für Ehefrauen und Kinder zum Programm
gemacht haben, Frauen also nicht als „Schuldige“, sondern als Opfer in dieser Debatte gesehen
wurden. Vgl. dazu Schonlau, Syphilis in der Literatur, 275 ff.
64 Peters/Brockhaus (Hg.), Alfred Kubin, 112. Dort auch eine Abbildung der Zeichnung (Abb. Kat.
21 A).
65 Vgl. dazu die Interpretation des Kubinsammlers und Zeitgenossen Eduard Fuchs, zit. in Peters/
Brockhaus (Hg.), Alfred Kubin, 146 ff.
66 Vgl. Alfred Marks (Hg.), Inventar der Bibliothek Alfred Kubin im Kubin-Haus des Landes Oberös-
terreich in Zwickledt/Wernstein. 3 Bde, Linz o. J. [1961–1980], dort Bd.1, 245, Inv.-Nr. 1939.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463