Page - 200 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
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Diskurse200
Geschlecht übrig gehabt, bei der nur wohlerhaltene, reife Frauen von dreißig bis vier-
zig Jahren eine Ausnahme machten. Nun aber interessierte mich auch die gesamte junge
Weiblichkeit. [...] die Nächte waren voll dunkler Geheimnisse.“75
Wir begegnen dem Thema wieder in der Darstellung der Münchner Jahre. Die Vor-
stellung eines „freien“ Liebeslebens gehörte zum fixen Repertoire eines bohèmehaf-
ten Künstlerlebens, wie es Kubin auch in seiner Autobiographie fortschrieb:
„Wir musizierten, zeichneten Karikaturen, lasen und liebten, kurz, wir führten ein Dasein
frei nach Murgers ‚Zigeunerleben‘.“76
Die sexuellen Nöte und Aggressionen jener Jahre wurden somit rückblickend zu
einem romantischen Bohèmeleben stilisiert und verharmlost. Nach Kubins eigener
Darstellung fand sein Geschlechterkampf ein friedliches Ende mit seiner Heirat mit
Hedwig Gründler, geb. Schmitz. Die Ehe mit der Witwe und Mutter eines Sohnes
sowie der bald darauf folgende Umzug aufs Land brachten die ersehnte Ruhe in sein
Leben und veränderten auch sein Werk, so das von Kubin geprägte und vielfach
weitervermittelte biographische Narrativ. In der Autobiographie schrieb er:
„Nächst meiner Kunst gab mir die Ehe das größte Glück, das ich gefunden habe. Die
Beziehungen zwischen Weib und Mann enthalten Probleme tief geheimnisvoller Natur,
die wahrscheinlich niemals ganz gelöst werden können. Die Altvordern versuchten es auf
mannigfache Art, unter diesen sagt mir die Einehe am besten zu. In neuester Art versucht
man durch Scheidungen die Idee lebenslänglicher Bindung an den selbstgewählten Part-
ner zu lockern; das kann manchmal gut ausgehen, vertiefen wird es das persönliche Leben
selten.“77
Kubin bemühte sich offenbar, dem Ideal des zur Ruhe gekommenen Ehemannes zu
entsprechen, was zweifellos nicht gelang. Mehrere langjährige außereheliche Bezie-
hungen sind bekannt,78 eine davon thematisierte er auch in der Autobiographie:
75 Kubin, Aus meinem Leben, 16.
76 Kubin, Aus meinem Leben, 22. Der von Kubin hier genannte Henri Murger (1822–1861) war ein
französischer Schriftsteller, dessen bekanntestes Buch „Scènes de la vie de bohème“ (auf Deutsch
auch unter dem Titel „Zigeunerleben“ erschienen) die Vorlage für Giacomo Puccinis Oper „La
Bohème“ bot.
77 Kubin, Aus meinem Leben, 71.
78 So z.B. Mitte der 1930er-Jahre mit der Künstlerin Emmy Haesele, vgl. Barbara Wally, Emmy Ha-
esele 1894–1987. Leben und Werk, Wien 1993. Romanhaft verarbeitet wurde die Beziehung zwi-
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463