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| 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche
Diskurse204
„Meine Frau näht und stopft gewöhnlich vormittags in meiner Nähe oder geht ihren häus-
lichen Beschäftigungen nach, unterstützt aber auch meine Arbeit, indem sie Tusche an-
reibt, mein uraltes Büttenpapier ausbügelt – und vor allen Dingen die Pakete für die Post
macht.“86
Zur Tradition war auch geworden, dass während des jährlichen Sommeraufent-
halts des Künstlers zu dessen Regeneration (zumeist im Böhmerwald) der große
Hausputz erledigt wurde. 1940 schreibt der Künstler an den Schriftsteller Hermann
Hesse: „Empfehlung an Ihre Frau – die meinige putzt Zwickledt während meiner
Ferien.“87
Die für Kubin vorteilhafte Rollenaufteilung wurde nur durch Hedwig Kubins Er-
krankungen gestört. Nichts hasste der Künstler generell so sehr wie Störungen, die ihn
in seinem Arbeiten behindern könnten, und somit waren neben der zweifelsfrei vor-
handenen Sorge um seine Frau die häufigen Krankenhaus- und Sanatoriumsaufent-
halte ein häufiger Grund zur Klage, die er in zahlreichen Briefen an Freunde äußerte.
Als es Hedwig Kubin 1909 besonders schlecht ging, schrieb Kubin an Herzmanovsky:
„Otto [Anm.: Gründler, der Sohn Hedwig Kubins] wird meine Frau abholen, vermutlich
(wenns gut geht) Ende nächster Woche reisefähig – Morphium vermindert, aber durch
die neuen Anfälle konnte sie natürlich nicht geheilt werden. – Günstigsten Falls muß sie
im Herbst die Cur fortsetzen um ganz frei zu werden (3–4 Wochen). Aber wenn sie stirbt?
Mein Gott was dann! – ich kann mich doch nicht auch wegputzen mit 32 Jahren. Ich habe
keine Ahnung wie ich so etwas überstehen würde wie ich dann mein Leben arrangieren
würde! – Ich würde hier auf dem kleinen Besitz bleiben, denn ich bin unfähig für die Stadt.
Das steht bei Gott, ich ergebe mich.“88
Auch in einem Brief von 1922 dominiert angesichts einer Grippeerkrankung seiner
Frau Kubins Sorge um die Stabilität des Hauswesens, die ihm für seine Arbeit unab-
dingbar schien:
„Ich bin so überladen auch mit rein häuslichen Besorgungen da Hedwig seit 4 Wochen
unter dem Einfluß einer argen Grippe eine Verschlimmerung ihrer Magenbeschwerden
86 Alfred Kubin, Mein Tag in Zwickledt (1921), in: Kubin, Aus meinem Leben, 88.
87 AK an Hermann Hesse, Tusset im Böhmerwald 15.8.1940, zit. nach Hermann Hesse/Alfred Ku-
bin, „Außerhalb des Tages und des Schwindels“. Briefwechsel 1928–1952. Hg. von Volker Michels,
Frankfurt am Main 2008, 238.
88 AK an Fritz Herzmanovsky-Orlando, [Zwickledt] 2.4.1909, zit. nach Herzmanovsky-Orlando,
Briefwechsel, 25.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463