Page - 205 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
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3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts | 205
erleidet das sie, auf Anordnung unseres Arztes zu einer Hunger- und Liegekur verurteilte,
was eine nette Verschlampung des Hauswesens im Gefolge zeitigt denn die Umstände bei
mir vertragen eben leider keine kranke Frau wenn alles klappen soll.“89
Und 1937 klagte Kubin, selbst bekennender Hypochonder mit ständig wechselnden
Leiden, gegenüber Hermann Hesse:
„Dazu kommt, daß meine Frau wieder mit Schmerzen gichtisch-neuralgischer Natur fast
dauernd zu tun hat. – Einmal, ich glaube O. Stössl war es, schrieb mir ein Veteran, ihm
schiene, Frauen seien überhaupt dauernd organisierte Krankheiten, wo es anders scheint,
trügt es – mag sein, ich will über den uferlosen Stoff nicht nachdenken.“90
Die Belastung durch die Krankheitsanfälligkeit seiner Frau fand auch Einzug in
die autobiographische Darstellung, in der Hedwig Kubin offiziell die Rolle der den
Künstler unterstützenden „Lebenskameradin“ und „guten Fee“ zugewiesen bekam.
„Ich danke der begabten Kameradin meines Lebens so unsagbar viel, daß es geradezu
lächerlich erschiene, hier Einzelheiten anzuführen. Sie ist die gute Fee, die mir, so viel sie
kann, bei meiner Arbeit hilft, um meinen mit Empfindlichkeiten gequälten Menschen
stets liebevoll besorgt ist und unserm kleinen Besitz ein solches Gepräge gibt, daß man
sich darauf wohl fühlen kann. Freilich, auch unser Schicksal hat seine Haken. Meine Frau
war weit öfter krank, als dies auch bei dem zarten Geschlecht im Durchschnitt der Fall
zu sein pflegt, und so trafen auch mich die Rückschläge eines solchen Mißgeschicks im
vollen Maß.“91
Der Tod Hedwig Kubins im Jahr 1949 nach fast fünf gemeinsamen Jahrzehnten traf
den Künstler schwer. Trotz aller Schwierigkeiten hatte das Paar eine intensive, tiefe
Beziehung geführt, wie nicht zuletzt auch ihre Korrespondenz aufzeigt.92
In zahlreichen Briefen und Texten aus seiner zweiten Lebenshälfte verwies Kubin
mit Dankbarkeit darauf, dass das Alter ihm auch in sexuellen Belangen mehr „Ruhe“
89 AK an Fritz Herzmanovsky-Orlando, Zwickledt 1.2.1922, zit. nach Herzmanovsky-Orlando, Brief-
wechsel, 228.
90 AK an Hermann Hesse, 10.2.1937, zit. nach Hesse/Kubin, Briefwechsel, 154.
91 Kubin, Aus meinem Leben, 71.
92 Vgl. Kubin-Archiv, Korrespondenz Hedwig Kubin-Alfred Kubin. Publiziert wurden bis dato nur
die Briefe von AK an Hedwig Kubin bis 1909 (Hamminger, Mein armer Liebling). Eine genauere
Untersuchung oder Edition der gesamten Korrespondenz wäre nicht zuletzt für die Analyse von
zeitgenössischen Geschlechterverhältnissen von großer Relevanz.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463