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3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts | 215
ein emanzipierter Weg für Künstlerinnen bzw. Frauen generell aber auch nach 1918
immer noch war, zeigt Erika Giovanna Kliens Lebenslauf. 1919 nahm sie das Stu-
dium an der Wiener Kunstgewerbeschule auf und beschritt damit einen Weg, der für
Frauen innerhalb des künstlerischen Spektrums noch am ehesten gangbar war. Das
Feld des Kunstgewerbes war Frauen von jeher nicht so sehr verschlossen wie andere
künstlerische Tätigkeitsbereiche, und mit der Ausbildung bei Franz Čižek eröffnete
sich ihr zudem der Bereich der Kunstpädagogik. Eine Tätigkeit als Pädagogin galt
für Frauen auch nach dem Ersten Weltkrieg noch als der „natürlichere“ Weg als der
einer selbständigen Künstlerin. Klien interessierte sich neben der bildenden Kunst
für das Schauspiel, ein Berufsweg, den aber ihr Vater nicht unterstützte. Als Meis-
terschülerin Čižeks konnte sie bald reüssieren, bekam kleinere Aufträge und führte
ein eigenes Atelier in Wien-Purkersdorf. 1926 kam ihr erstes berufliches Angebot
als Kunstlehrerin in Salzburg Kleßheim. Anders als Margret Bilger, die in der Arbeit
mit Kindern vor allem das soziale Moment sah und es mit der Vorstellung einer
aufopfernden Mütterlichkeit verknüpfte, hatte Klien an der kunstpädagogischen Ar-
beit ein eher kunsttheoretisches Interesse. Wie auch ihre späteren Arbeiten aus New
York, ihre Skripten und Aufzeichnungen zur Vermittlung von Kunst zeigen, setzte
sie sich zeitlebens mit kunstpädagogisch-theoretischen Fragen auseinander.121
Die Zeit, die Klien als junge Frau in Kleßheim verbrachte, ist biographisch durch
die bereits vorgestellten „Klessheimer Sendboten“ gut dokumentiert. Fotos, Aussa-
gen von StudienkollegInnen und nicht zuletzt die Selbstdarstellung in den „Sendbo-
ten“ vermitteln aus dieser Zeit das Bild von Klien als geradezu idealtypischer „neuer“
Frau der 1920er-Jahre. Berufstätig – zumindest bis zur Verheiratung –, burschikos,
selbständig und nun auch mit politischen Rechten ausgestattet, unterscheidet sich
diese „neue“ Frau von den zuvor für die Fin-de-Siècle-Kultur dargestellten Fraueni-
dealen. Mit dem Kurzhaarschnitt, der Zigarette im Mund und modern geschnittener
Kleidung verkörperte Klien das neue Frauenbild geradezu idealtypisch. So ist sie
auf Fotos aus jener Zeit zu sehen, so stellte sie sich auch selbst in den „Klessheimer
Sendboten“ dar.122
Mit großem Selbstbewusstsein thematisierte Klien in den „Klessheimer Sendbo-
ten“ auch die Themen Sexualität und Beziehungen. Freud und Leid des Liebeslebens
einer jungen Frau wurden verpackt in ironische Mitteilungen, die traditionelle Vor-
stellungen von Geschlechterrollen und -beziehungen aufhoben. So ist beispielsweise
121 Vgl. Slg. Mautner Markhof Wien, Prov. NL Klien, Ordner Didaktische Schriften. Unterrichtsmanu-
skripte Kliens aus New York befinden sich auch im Archiv der Universität für Angewandte Kunst
in Wien und sind über die dortige Datenbank abrufbar unter https://emp-web-90.zetcom.ch/eMP/
eMuseumPlus (2.9.2019).
122 Vgl. die Abbildungen im Kapitel 2.4.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463