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3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts | 217
Auf wen nimmt Klien hier Bezug? Mit dem ersten Zitat verweist sie auf ihren
Lehrer und Förderer Franz Čižek. Mit Sigmund Freud referiert sie auf den Begrün-
der der Psychoanalyse und mit Prentice Mulford führt sie einen zeitgenössisch breit
rezipierten amerikanischen Freidenker an, dessen Werk mit einem Vorwort von
Bertha Eckstein-Diener (Sir Galahad) Anfang des 20. Jahrhunderts auf Deutsch er-
schienen ist und sich auch in Alfred Kubins Bibliothek finden lässt.126
Das Thema der Liebe durchzieht beinahe alle Sendboten der damals 27-jährigen
Künstlerin. Sie bringt es auch in Beziehung zu ihrer künstlerischen Arbeit, so heißt
es einmal unter der Überschrift „Selbst-Erkenntnisse der Verzweiflung“:
„I. Was bin ich?
Missgeburt aus Dreck und Feuer
Spezialfach: Verschlampte Existenz
II. Was hab ich?
Nichts! Weil Erotik Schwindel und Liebe unerreichbar ist
III. Was soll ich?
Liebe umwerten in Arbeit und Abstraktion
IV. Was tu ich?
Ich werfe mein gebrochenes Herz in den nächsten poetisch gelegenen Froschteich
V. Warum?
Weil ich jemand liebe der mich zu der Erkenntnis zwingt: ‚Liebe ist unerreichbar‘“127
„Liebe umwerten in Arbeit und Abstraktion“: In dieser Aussage übernimmt Klien
ein zentrales Künstlerstereotyp, demzufolge tiefe Emotionen, auch negative im Fall
von Verletzung, Enttäuschung und Einsamkeit, den kreativen Prozess forcieren und
zum Künstlerdasein konstitutiv dazugehören.128 Die Polarität bzw. der gegenseitige
Ausschluss von (gelungener, glücklicher) Liebe und (gelungener, künstlerischer)
Arbeit kann in Kliens Darstellung darüber hinaus aber auch geschlechtsspezifisch
gedeutet werden: Der erste Weg für eine Frau sei damit jener, der „Liebe“ zu folgen,
sich einem Mann anzuschließen, zu heiraten, Kinder zu haben. Erst wenn dieser
126 Prentice Mulford, Der Unfug des Sterbens. Ausgewählte Essays. Bearbeitet und aus dem Englischen
übertragen von Sir Galahad, München 1933. (Kubin Bibliothek Inv.-Nr. 5172) Mulford betont zwar
eine Geschlechterpolarität, nach der es unterschiedliche weibliche und männliche Eigenschaften
gibt, verfolgt aber klar frauenemanzipatorische Ansätze und liberale Ideen.
127 Erika Giovanna Klien, „Klessheimer Sendbote No.2: Die Reise“, 11.1.1927. Vgl. Abb. 10.
128 Vgl. Verena Krieger, Was ist ein Künstler? Genie – Heilsbringer – Antikünstler. Eine Ideen- und
Kunstgeschichte des Schöpferischen, Köln 2007, 49 ff.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463