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Diskurse218
Weg aus welchen Gründen auch immer nicht möglich ist, rücken Arbeit und Kunst
an die erste Stelle.
Kliens weiteres Leben und ihr Karriereverlauf erfuhren noch während der Kleß-
heimer Zeit eine nachhaltige Zäsur. Im Herbst 1928 schrieb sie an ihren früheren
Lehrer und Mentor Franz Čižek, dass sie in Kleßheim dreimonatigen Urlaub nehmen
wolle, sie müsse sich „von Klessheim erholen und möchte eine zeitlang ungestört
[…] arbeiten“.129 Der „Urlaub“ hatte in Wirklichkeit einen anderen Hintergrund, den
Klien verheimlichte: Sie war schwanger und brachte im November 1928 ihren Sohn
Walter zur Welt, den sie nach der Geburt bei Pflegeeltern unterbrachte.130 1929 ver-
ließ sie Österreich und damit auch ihren Sohn (letztlich für immer, was in der da-
maligen Entscheidung allerdings nicht klar war), und setzte ihren Überlebenskampf
als Künstlerin und Kunstpädagogin in New York fort. Aus ihren Briefen aus New
York an die Mutter geht klar hervor, dass sie nicht dauerhaft in New York bleiben
wollte. Der Plan war, sich dort zu etablieren und genug Geld für eine Rückkehr und
Existenz in Europa zu verdienen. Über den Sohn erfahren wir aus den vorhande-
nen auto/biographischen Quellen nichts. Wie es der Künstlerin mit diesem für sie
zweifellos prägenden Lebensthema ging, wie sie die Trennung zum Kind erlebte,
vielleicht auch künstlerisch verarbeitete – die Familienkorrespondenz weist hier nur
eine Leerstelle auf. In einem Brief an Čižek aus dem gleichen Zeitraum hingegen
findet sich folgende Stelle:
„Ich glaube ich komme nächsten Sommer nach Europa und Wien – ich muss mein Kind
wiedersehen – in 4 Monaten ist Bubi schon zwei Jahre alt – und ich kann nicht immer nur
Photos küssen –“131
Im Sommer 1931 dürfte Erika Giovanna Klien tatsächlich wie geplant in Österreich
gewesen sein, vermutlich sah sie dabei auch ihren Sohn. Es war aber ihr letzter Be-
such, ihre finanzielle Situation und die politische Entwicklung in Europa verhinder-
ten eine dauerhafte Rückkehr.
Leider liegen aus der Zeit in den USA nur wenig Quellen vor, die über Kliens
Sicht von sich als Frau und Künstlerin und ihrer Vorstellung der Geschlechterrollen
129 Wienbibliothek, Handschriftensammlung, NL Čižek, Sch. 4, EGK an Franz Čižek, Kleßheim
10.9.1928.
130 Die Identität des Vaters, der verheiratet war, kannten offenbar nur Kliens engste FreundInnen,
vgl. freundliche Auskunft Marietta Mautner Markhof. Erika Giovanna Kliens Sohn, Walter Klien
(1928–1991), wurde später als Pianist international bekannt.
131 Wienbibliothek, Handschriftensammlung, NL Čižek, Sch. 4, EGK an Franz Čižek, Siasconset Juli
1930.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463