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Diskurse222
lenbildern. Als anschauliches Beispiel kann hier eine Erinnerung aus der Autobio-
graphie der Schriftstellerin Johanna Schopenhauer (1776–1838) zitiert werden. Sie
hatte ein Gemälde der Künstlerin Angelika Kaufmann als Geschenk erhalten und
machte dabei eine für sie überraschende Erfahrung: „Angelika Kaufmann! wer war
Angelika Kaufmann? Sie ist eine noch in Italien lebende, allbewunderte, hochver-
ehrte Malerin, erhielt ich zur Antwort. Eine Malerin, also kann es auch Malerinnen
geben? Ich hatte noch nie von einer gehört.“139
Diese Situation änderte sich bis Anfang des 20. Jahrhunderts kaum, auch zu
diesem Zeitpunkt waren anerkannte professionelle Künstlerinnen seltene Ausnah-
meerscheinungen und Ausbildungs- und Ausstellungsbetrieb immer noch männli-
che Terrains. So mussten sich auch um die Jahrhundertwende geborene Künstlerin-
nen wie Margret Bilger und Erika Giovanna Klien mit ihrer Identität als Frauen und
Künstlerinnen stärker auseinandersetzen als dies für männliche Künstler der Fall
war. Beide hatten aber das Glück, dass ihre Eltern ihnen eine künstlerische Ausbil-
dung gestatteten und sie auch mehr oder weniger finanziell unterstützen konnten.
Für sie traf zu, was Renate Berger folgendermaßen formulierte: „Künstlerinnen leb-
ten von der Ausnahme, bisweilen vom Wunder. Ausnahmen in Gestalt wohlmei-
nender Väter, Mütter, Gatten und anderer Verwandter, Ausnahmen unter Lehrern,
Mäzenen, Mäzeninnen, Mentoren – sie sorgten für den äußeren Rahmen dessen,
was ‚the making of an artist‘ genannt wird.“140
Im Fall von Margret Bilger zeigt bereits das Eingangszitat die Bedenken der Eltern
hinsichtlich der künstlerischen Ausbildung der Tochter. Sie standen aber dennoch
hinter dem gewählten Weg. Finanzielle Zuwendungen des Vaters blieben für Mar-
gret Bilger bis in die späten 1930er-Jahre die Hauptexistenzgrundlage, bei extrem
bescheidenem Lebensstil und sehr zu ihrer Frustration. Dass es ihr so lange nicht
gelang, finanziell unabhängig und von ihrer Kunst leben zu können, bedeutete einen
beinahe täglichen Kampf und eine lange währende Auseinandersetzung über die
Richtigkeit des gewählten Lebenswegs. Während der Ausbildungszeit an der Kunst-
gewerbeschule sah sie sich noch nicht als künftige Künstlerin, und dies hatte auch
mit vorherrschenden Geschlechtervorstellungen zu tun:
„Ich denke aber nicht mehr länger als ein Jahr an der Schule zu bleiben, denn ich sehe,
wie lächerlich all die Künstlerinnen sind, die da schon jahrelang hereinlaufen u. dann alles
139 Johanna Schopenhauer, Jugendleben und Wanderbilder, o. O. 1958, zit. nach Renate Berger (Hg.),
„Und ich sehe nichts, nichts als die Malerei.“ Autobiographische Texte von Künstlerinnen des 18.–
20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1987, 61.
140 Berger (Hg.), Autobiographische Texte, 22.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463