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| 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche
Diskurse224
Bilgers Korrespondenz jener Jahre zeigt, wie schwer es ihr fiel, einen befriedigen-
den Weg innerhalb der vorherrschenden Geschlechtszuschreibungen, die sie grund-
sätzlich nicht in Frage stellte, zu finden. 1928 schrieb sie an die Mutter:
„[...] es ist wie damals, wo ich so ganz Puppenmutter war u. nur eine Sorge u. ein Kind
hatte – wie glücklich Frau sein u. bereiten was der Mann gibt. Ich glaub wohl, daß meine
Kunst mein Segen ist u. mein Fluch – u. es steht dem Stillen, dem Steten gegenüber u. will
wachsen. Es ist wie Mann u. Frau in mir, u. beides will leben u. stark leben in einem.“146
„Wie Mann und Frau“ – die Zuordnung erscheint klar: Die künstlerische Ambi-
tion, das damit verbundene Streben nach Unabhängigkeit, Zurückgezogenheit und
Rücksichtslosigkeit, war der männliche Teil, der Wunsch zu geben und ein Kind zu
umsorgen, der weibliche. Die scheinbare Unvereinbarkeit stand im Zentrum einer
langewährenden Lebenskrise, die um eine Entscheidung hinsichtlich ihres weite-
ren Lebenswegs kreiste. Bei aller „weiblicher“ Bescheidenheit, die sie sich auferlegte,
kam auch die „dem Künstler“ zugeschriebene Ich-Bezogenheit bei Bilger oftmals
durch. 1927 klagte sie den Eltern von ihrem Sommeraufenthalt in Uttendorf (Salz-
burg), wo sie bei einer befreundeten Familie als Kindermädchen arbeitete:
„Glaubt Ihr, daß Rilke hätte dichten können, nachdem er Ziegel geschupft oder Stuben
gekehrt, wochenlang? [...] Ich weiß jetzt bestimmter als je, daß es nur Wert hat zu leben,
wenn man seinen Weg geht, alles andre ist naturwidrig. Faßt es also bitte nicht als Nicht-
aushalten auf. Ich halte es leicht aus, aber ich sehe nicht ein, warum ich Raupen klauben,
Strümpfe stopfen, kinderspielen soll u. um dessetwillen große Aufgaben zurückdrängen,
die sehr wichtig sind, bald zu machen. […] Es handelt sich nicht um mich, aber um mei-
nen Beruf.“147
Bilgers Geschlechterkonzept, das im Widerspruch zu solchen Emanzipationsaus-
brüchen stand, war eng mit einem Konzept der Mütterlichkeit, nicht nur im Sinne
einer biologischen, sondern vielmehr einer „geistigen“ Mütterlichkeit, verbunden.
Aus einer traditionellen bürgerlichen Geschlechterordnung kommend, wurde dieses
Konzept gesellschaftspolitisch vor allem von der Kirche und von Seiten der Christ-
lichsozialen propagiert. In den 1930er-Jahren, in Österreich vor allem in der Phase
des autoritären Ständestaats zwischen 1933/34 und 1938, kam es zu einer besonders
146 Bilger-Archiv, MB an Margaretha und Ferdinand Bilger (Eltern), Taufkirchen 3.9.1928.
147 Bilger-Archiv, MB an Margaretha Bilger (Mutter), o. D. [Ende August 1927].
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463