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| 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche
Diskurse230
Geburt meines toten Kindes. Die Geburt war schön u. leicht, aber nachher war es arg, alles
das Plötzliche mit ganz erschütterten Nerven u. solcher Schwäche zu fassen. Ich bin noch
nicht gesund aber schon zuhause. Mir ist als sollt noch wo dem Kind die Mutter neu erste-
hen u. hat sich viel in mir erneuert. Meine liebe Liesl es war auch Segen u. ich wollt nichts
davon hergeben. Zuletzt war ich viel bei den Frauen ich hab all die kleinen Kinder die
immer kommen im Arm gehalten ich hab so stark mitgelebt […] Du die Kinder die sind
so wunderbar so fest u. stark wie Knospen u. so für sich vielleicht wenn ich noch einmal
eines tragen darf werd ich es tiefer verstehn [...] Ich hab mich oft so stark nach meinem
kleinen Kind gesehnt, ich war ganz allein u. schlaflos in einem Raum u. niemand durfte
mich besuchen u. ich hab nicht gewußt was ist.“164
Die Totgeburt ihres Kindes wurde zu einer nachhaltigen Zäsur in Bilgers Leben,
auch hinsichtlich ihres weiteren Wegs als Künstlerin. Ihrem Vater teilte sie im Som-
mer 1935 mit:
„Ich bin so froh, daß ich wieder eine Einstellung endlich zu meinem Leben gefunden hab,
daß es mir jetzt auch gut geht mit dem Gedanken daß ich kein Kind habe. Bis jetzt war
das eine Wunde. Sie fängt an zu heilen. Und alles Mütterliche was in mir ist ich hab ja das
Glück vielen Frauen voraus daß es alles fruchtbar werden kann in der Kunst.“165
Es scheint als ob Bilger sich erst über die Dramatik der Totgeburt ihres Kindes die
Möglichkeit zugestand, ihr „mütterliches“ Element in der Kunst ausleben zu dürfen
und sie damit einen Weg fand, der die zuvor unversöhnlichen Lebenskonzepte doch
verbinden konnte. Die Ehe zu Markus Kastl hielt nicht und Bilger zog es nach dem
Scheitern ihrer Ehe und dem Verlust des Kindes immer mehr aufs Land, wo sie sich
schließlich dauerhaft in Taufkirchen ansiedelte und auf ihren künstlerischen Weg
konzentrierte.
Wie und ob sie auch ein Leben als Mutter, Ehefrau und Künstlerin geführt hätte,
muss offen bleiben. Role models gab es für einen solchen Weg kaum, die Entschei-
dung für eine Familie führte meistens dazu, dass die eigene künstlerische Arbeit
zurückstehen musste, was notwendigerweise Auswirkungen auf Karriere und Be-
kanntheit hatte. Bilgers Freundin Elisabeth Karlinsky, eine Studienkollegin von Erika
Giovanna Klien, schilderte in ihren Briefen an Bilger immer wieder die Schwierig-
164 Bilger-Archiv, MB an Elisabeth Karlinsky, Graz o. D. [April 1934], auch zit. in: Petra-Maria Dal-
linger (Hg.), „Jetzt wo du wieder weg fährst, weiß ich erst wie ich ganz allein bin“. Briefwechsel
zwischen MB und Elisabeth Karlinsky, Linz 2006, 45.
165 Bilger-Archiv, MB an Ferdinand Bilger (Vater), Taufkirchen o. D. [vermutlich Frühjahr 1935].
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463