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3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus | 239
den von einem Agenten Pateras beim Grenzübertritt ins „Traumreich“ einer rigiden
Kontrolle unterzogen:
„‚Das werden Sie hier lassen müssen, gnädige Frau‘, sprach er [Anm.: der Agent Pateras]
weiter und deutete auf eine blinkende Kochmaschine, welche meine Gattin gerade von
draußen hereinbrachte. [...] ‚Was darf denn eigentlich mitgenommen werden?‘ ließ sich
jetzt meine Frau vernehmen. ‚Unser Agent für Bayern dürfte das wohl schon erwähnt ha-
ben, Madame. Es ist die Regel, daß nur gebrauchte Sachen das Tor passieren.‘ […] Ein
photographischer Apparat samt Zubehör wurde sogleich fortgestellt, dann folgte ein Bi-
nocle, ein ausgezeichnetes Glas; beim Rasierapparat sagte der Kerl: ‚Um Gottes willen!‘
Das Necessaire meiner Frau wurde genau durchstöbert. Bei unseren Kleidern schien er
zu zweifeln. Als mein schöner Reiseüberzieher nach letzter Mode daran kam – ein Stück,
worauf ich stolz war – meinte er: ‚Den wird sich der Herr gewiß ändern lassen! Man will
doch nicht auffallen!‘ Als aber die Wäsche meiner Gefährtin an der Reihe war und der
Dummkopf auch da nachsehen wollte, fuhr ich dazwischen: ‚Das bleibt, da wird nichts
fortgenommen!‘ Auch die Bücher wurden scharf revidiert, doch ließ man mir meine hüb-
schen alten Sachen.“189
Fast scheint es dem Ehepaar mit der Moderne-Verweigerung zu viel zu werden, spe-
ziell für die Frau des Ich-Erzählers, die generell von Beginn an als die skeptischere
der beiden geschildert wird. Als Besitzerin einer „blinkenden Kochmaschine“ wird
sie in dieser Szene zum Symbol einer modernen, Technologie verwendenden Welt.
Dies dürfte nicht zuletzt Kubins reales Leben widerspiegeln, in dem seine Frau Hed-
wig die praktischen Dinge des Lebens erledigte und dabei stärker mit den Segnun-
gen und Umwerbungen der neuen elektrischen Geräte in Berührung kam als der
sich weltfremd gebende Künstler.190 Aber auch der Ich-Erzähler, und damit Kubins
Alter Ego, ist nicht begeistert, dass er Teile seiner Besitztümer zurücklassen muss,
konkret genannt Fotoapparat, Binocle und Rasierapparat. Auch die Kleidung, die
im Traumreich getragen wird, irritiert die neuen BewohnerInnen, denn die Traum-
menschen tragen „die Kleider ihrer Eltern und Großeltern“, der Ich-Erzähler im
189 Kubin, Die andere Seite, 41 f.
190 Generell standen Frauen, der Sphäre der Haushaltsführung zugeordnet, im Zentrum der Bewer-
bung einer Vielzahl neuer elektrischer Geräte, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf den Markt
kamen, wie beispielsweise Elektroherd oder Kühlschrank. Dass Hedwig Kubin solchen Neuerun-
gen eher positiv gegenüberstand, zeigt auch ein Schreiben von ihr an Kubin-Archivar Kurt Otte,
in dem sie diesem (maschinschriftlich!) von der neuen Schreibmaschine berichtete, die sie als Ge-
schenk ihres Bruders erhalten hatte und die große Erleichterung in ihr Leben bringe. Vgl. Kubin-
Archiv, Hedwig Kubin an Kurt Otte, 21.2.1926.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463