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Diskurse240
Konkreten „einen Taillenrock, eine weitausgeschnittene, geblümte Weste und Va-
termörder à la 1860“.191
Kunstwerke jüngeren Datums dürfen ebenfalls nicht in das Traumreich einge-
führt werden. Schon bei seiner Einladung ins Traumreich erfährt der Ich-Erzähler,
der als Graphiker selbst einen künstlerischen Beruf ausübt, über den Umgang mit
der Kunst an seinem künftigen Wohnort Folgendes:
„Ich erinnere mich übrigens keines Falles, daß ein Gemälde, eine Bronze, oder sonst ein
Kunstgegenstand neueren Ursprungs angekauft worden wäre. Die sechziger Jahre des vo-
rigen Jahrhunderts bildeten die äußerste Grenze. (…) Patera ist mehr Altertumssammler
im allgemeinen als Kunstsammler, das allerdings im größten Stil.‘“192
In einem Brief des Ich-Erzählers an seinen Freund Fritz (als Kubins Freund und
Briefpartner Fritz Herzmanovsky-Orlando zu erkennen) findet sich eine weitere Er-
wähnung, die Perle als überdimensionalen Antiquitätenladen charakterisiert:
„Perle ist ein wahres Dorado für Sammler, diese Stadt ist geradezu ein Museum, natürlich
riesig viel Mist, aber auch die großartigsten Stücke. […] Es gibt überhaupt nur Altes, man
lebt wie Großvater im Vormärz und pfeift auf den Fortschritt.“193
Dieser Facette der Fortschrittsverweigerung kann der Ich-Erzähler, selbst passio-
nierter Sammler,194 durchaus etwas abgewinnen, mit anderen „vormodernen“ Ein-
richtungen des Traumreichs zeigt er sich weniger zufrieden. Über die erste Zugfahrt
im Traumreich heißt es:
„Nach mehreren fruchtlosen Anstrengungen brachte die Maschine den Zug endlich in
Bewegung. Die Geschwindigkeit war sehr mäßig, noch mäßiger die qualmende Ölbe-
leuchtung in den Wagen. […] ‚Ihre Lampen riechen aber miserabel, da kann einem ja
schlecht werden‘, sagte ich zu dem Beamten. ‚Es war noch nie eine Klage!‘“195
Auch die Ankunft in der Hauptstadt Perle war ernüchternd. „So sieht es ja bei uns in
jedem Drecknest aus!“, so die erste Reaktion des Ich-Erzählers. Die erste Nacht im
191 Kubin, Die andere Seite, 62.
192 Kubin, Die andere Seite, 22.
193 Kubin, Die andere Seite, 78.
194 Kubin war ebenfalls Sammler, vgl. Monika Oberchristl/Gabriele Spindler (Hg.), Alfred Kubin und
seine Sammlung, Weitra 2015.
195 Kubin, Die andere Seite, 51.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463