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3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus | 257
bewusst wählten. Im Jahr 1906 übersiedelten auch Alfred und Hedwig Kubin von
München nach Wernstein am Inn in Oberösterreich. Das Paar erwarb das Anwesen
Zwickledt, ein etwas baufälliges kleines Schlösschen am Rand der kleinen Innviert-
ler Gemeinde, umgeben von Wiesen, Wäldern und Feldern, die nächsten größeren
Orte waren Schärding und Passau. Mit einem großen Garten erwies sich das Anwe-
sen beinahe als kleiner landwirtschaftlicher Betrieb, vor allem Hedwig Kubin musste
eine enorme Anpassungsleistung von der Städterin zur landwirtschaftlich versierten
Hausfrau vollziehen. Über die Gründe des Umzugs nach Zwickledt schrieb Kubin an
seinen Freund Hans von Müller:
„Wir ziehen gänzlich fort von München weil es auf die Dauer zu teuer kommt in der Stadt,
– Wohnung und Lebensmittel sind für unsere Verhältnisse unerschwinglich dann vertrage
ich die Stadt nicht mehr und hab sie auch seelisch satt.“237
Neben den angeführten finanziellen Gründen führte Kubin somit auch zeitgenös-
sische Stadtkritik an, wonach sich das Großstadtleben negativ auf seine seelisch/
nervliche Konstitution auswirke. Die positiven Vorstellungen des Landlebens erfüll-
ten sich aber nicht unmittelbar. Das Paar, das bisher umgeben von einem großen
Freundeskreis im städtischen Umfeld gelebt hatte, war die Isolation ebenso wenig
gewöhnt wie das bäuerliche Lebensumfeld. Betrachtet man die autobiographischen
Aufzeichnungen, lässt sich über die Jahre aber ein Wandel feststellen, an dessen
Ende Zwickledt als viel beschriebene und gezeichnete „Arche“ des Künstlers steht.
Die Veränderung in der Einstellung zum selbstgewählten Landleben zeigt sich
auch in der Autobiographie. Im ersten Teil, geschrieben 1911, fand Zwickledt noch
kaum Erwähnung. Kubin schrieb lediglich, sein Vater habe auf die Gelegenheit, den
kleinen Innviertler Landsitz zu kaufen, aufmerksam gemacht, und er sei gleich sehr
eingenommen gewesen für den Plan, da ihm die Stadt zu diesem Zeitpunkt bereits
„unleidlich“ geworden sei.238
Die Übersiedlung nach Zwickledt war aus dieser Perspektive betrachtet für Ku-
bin auch eine Art Rückkehr – nach Österreich und in die Nähe seiner Familie. Die
Münchner Jahre, zweifellos eine Emanzipationsphase, auch vom Vater, waren abge-
schlossen. Als neue Heimat oder gar „Arche“ erscheint Zwickledt in diesem ersten
Teil der Autobiographie aber noch nicht, ganz im Gegensatz zum darauffolgenden
zweiten Teil, der 1917 verfasst wurde. Die Umwandlung zum Landmensch war voll-
zogen, städtische Umgebung mache ihn zunehmend nervös, schrieb Kubin.
237 AK an Hans von Müller, 23.9.1906, zit. nach Herzmanovsky-Orlando, Briefwechsel, 327.
238 Kubin, Aus meinem Leben, 36.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463