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| 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche
Diskurse258
„Mich, der ich nun ganz Landmensch geworden war, zermürbte aber jeder ungewohnte
Stadtaufenthalt sehr bald. Behaglich fühlte ich mich eigentlich nur daheim in der Stille,
die von Zeit zu Zeit sehr angenehm durch Freundesbesuche aus der Stadt unterbrochen
wurde. So blieb ich auf dem Laufenden.“239
Bis auf gelegentliche Fahrten nach München oder Berlin verließ Kubin seinen
Wohnort kaum mehr, längere Auslandsreisen machte er gar nicht, seine regelmä-
ßige Sommerfrische verbrachte er im noch einsameren Böhmerwald. Über einen
Aufenthalt in Paris 1914 resümierte er in der Autobiographie:
„Im Januar 1914 entschloß ich mich nochmals zu einer Fahrt nach Paris, um auch die
Werke der dortigen Vertreter der neuen Malerei an der Quelle zu sehen. [...] In Paris
merkte ich dann leider am ersten Tag schon, daß meine Nerven dem wütenden Wechsel
von Sinneseindrücken nicht mehr ganz gut standhielten, ich war ängstlich, niedergeschla-
gen, erregt [...] Auf der Straße fielen mir die vielen Autos auf, welche die alten Gäule er-
setzten; es gab mehr Kinos, alles war mehr abgehetzt, das Essen in den Restaurants teurer
und etwas verfälschter, mit einem Wort, alles war amerikanisierter.“240
Autos, Kinos, Restaurants, „Amerikanisierung“ – für den Fortschrittsskeptiker Ku-
bin war die Großstadt – ganz im Sinne der zeitgenössischen kulturpessimistischen
Großstadtkritik à la Spengler241 – zum Gegenpol seiner ländlichen Zurückgezogen-
heit geworden, deren Wahrnehmung sich von der anfänglichen Isolation in eine „be-
hagliche Stille“242 gewandelt hatte. Größere Städte suchte Kubin jedenfalls nur mehr
selten auf. Ähnlich wie in der Beschreibung des Paris-Besuches von 1914 schrieb
er auch anlässlich eines Berlin-Aufenthalts 1922 an seinen Freund Herzmanovsky-
Orlando von dem ihm missfallenden Tempo der Stadt, das sich seiner Ansicht nach
in den letzten Jahren noch massiv gesteigert habe. Der großstädtisch mondäne Lu-
xus und die Bohème-Atmosphäre bei seinem Gastgeber, dem Berliner Verleger und
Galeristen Wolfgang Gurlitt, beeindruckten den Künstler aber dann doch noch:
„In Berlin sah ich eine Menge hochinteressanter Dinge – diese Stadt hat sich seit mei-
nem letzten Besuch 1913 was ihr Tempo anbetrifft ganz erheblich verändert – ein tolles
239 Kubin, Aus meinem Leben, 48.
240 Kubin, Aus meinem Leben, 48 f.
241 Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlands“ findet sich nicht in Kubins Bibliothek, was
aber nicht unbedingt heißen muss, dass er das Buch nicht gelesen hat. Mit der Inv.-Nr. 2804 ist ein
anderer Band von Spengler in der Kubinbibliothek vertreten: Jahre der Entscheidung, München
1933. Vgl. Marks, Inventar.
242 Kubin, Aus meinem Leben, 48.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463