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3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus | 261
Beziehung der Künstlerin: „In ihrem Wesen war Margret Bilger ein in der Stadt ge-
formter Mensch, den der persönliche Weg der Selbstfindung auf das Land führte.“250
In den 1930er-Jahren häuften sich Bilgers Aufenthalte in Taufkirchen, speziell
nach der Totgeburt ihres Kindes und der Trennung von ihrem Ehemann Markus
Kastl zog sie sich immer mehr in das Innviertel zurück. Schon zuvor, während ihrer
Ausbildung in Wien, äußerte sie in Briefen an die Eltern und ihre Schwester häufig
Stadtverdrossenheit und Landsehnsucht. Die Narrative zeitgenössischer Stadtkritik,
nach der Lärm und Schnelligkeit des Stadtlebens für nervöse Unruhe verantwortlich
gemacht wurden, finden sich auch in Bilgers Aussagen. Im Juni 1926 berichtete sie
beispielsweise ihrer Mutter über einen in Wien lebenden Freund:
„Er selbst ist aber nervös u. von aller Zerfahrenheit u. Halbheit der Großstadtmenschen
zerrissen.“251
Das Motiv der Stadtmüdigkeit wurde in jenen Jahren zur stehenden Formel in ihrer
Korrespondenz: 1927 schrieb sie der Mutter: „Die Stadt macht so müde, aber ich
muß ja da sein.“252 1928, diesmal in einem Brief an den Vater, hieß es: „Manchmal
bin ich schon sehr stadtmüde. So als ob es eine große Schule wär hinter deren Tür
erst das Leben anfinge.“253 Und in einem weiteren Brief an den Vater steigerte sich
die Begrifflichkeit von „müde“ auf „tot“, wenn es heißt: „[…] ich werde von Zeit zu
Zeit tot von der Stadt u. den Menschen.“254
Die Konsequenz die Stadt zu verlassen und aufs Land zu ziehen, wurde von Bilger
zwar in jenen Jahren schon erwogen, noch hielt sie aber etwas zurück. Ihrer Schwes-
ter schrieb sie 1929:
„Sag würdest Du in Taufkirchen für immer sein können ich noch nicht, ich brauche auch
die Stadt“255
Die Frage, ob sie dauerhaft in Taufkirchen leben könnte, stellte sich Bilger zu die-
sem Zeitpunkt also durchaus. Der Rückzug auf das Land und damit auch in die
250 Franz Xaver Hofer, Margret Bilger und Leoprechting, in: Melchior Frommel (Hg.), Margret Bilger
in Taufkirchen an der Pram. Aquarelle, Holzrisse und eine Dokumentation bis zur Ansiedlung im
Jahr 1939, Schärding 1996, 6–9, 6.
251 Bilger-Archiv, MB an Margaretha Bilger (Mutter), Wien, o. D. [Juni 1926].
252 Bilger-Archiv, MB an Margaretha Bilger (Mutter), Wien o. D. 10.3.1927.
253 Bilger-Archiv, MB an Ferdinand Bilger (Vater), Wien o. D. [vor Ostern 1928].
254 Bilger-Archiv, MB an Ferdinand Bilger (Vater), Wien o. D. [vor Ostern 1928].
255 Bilger-Archiv, MB an Irmtraut Bilger (Schwester), Wien o. D. [nach 8. Juni 1929].
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463