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| 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche
Diskurse266
„American Nervousness“ suchte er nach den Ursachen für die seiner Meinung nach
so rasche Verbreitung der Nervenschwäche und fand sie in den Ausprägungen der
„modernen Zivilisation“:
„The chief and primary cause of this development and very rapid increase of nervousness
is modern civilization, which is distinguished from the ancient by these five characteris-
tics: steampower, the periodical press, the telegraph, the sciences and the mental activity
of women.“267
Obwohl Beard die Neurasthenie als „amerikanische Krankheit“ bezeichnete, fanden
seine Arbeiten ungewöhnlich schnelle Rezeption in Europa, speziell im deutsch-
sprachigen Raum. Im Vorwort der deutschsprachigen Ausgabe seines bereits 1881
ins Deutsche übersetzten Hauptwerks heißt es, die Relevanz des Werkes und seiner
Übersetzung ins Deutsche begründend:
„Vorliegendes Werk, dessen erste Auflage von fünfzehnhundert Exemplaren in kaum vier
Wochen vergriffen war, behandelt denjenigen Krankheitszustand, der in den letzten De-
cennien nicht nur in Amerika, sondern auch bei uns in Deutschland eine solche Verbrei-
tung gewonnen hat, dass jeder Praktiker auf seinem Wege ihm täglich mehrfach begegnet.
Die grossen Ansprüche, welche die Gegenwart an alle Berufs- und Gesellschaftskreise
stellt, die Anforderungen der Schule, die gerade in der gefährlichen Zeit der Körperent-
wicklung sich steigern, der Wettlauf späterer Jahre nach äusseren Zielen, der wachsende
Lärm der Städte – kurz die moderne Civilisation mit ihren täglich zunehmenden Bedürf-
nissen und täglich steigenden Anstrengungen, sie zu befriedigen – alle diese Momente
vereinigen sich, um der lebenden Generation grössere Anspannung und stärkeren Ver-
brauch ihrer Kräfte aufzunöthigen. Eine natürliche Folge dieses intensiveren Lebens daher
ist die raschere Erschöpfung, die geringere Widerständigkeit, die weitere Verbreitung der
sogenannten Nervosität.“268
Mit seiner Argumentation lag Beard also im Trend der sich auch in Europa am Vor-
marsch befindlichen kulturpessimistischen Modernitätskritik, was mit ein Grund
für die rasche und positive Rezeption seiner Arbeiten gewesen sein dürfte. Auf wei-
ten Strecken kritisch gegenüber Beard zeigte sich Sigmund Freud, der in verschiede-
nen Abhandlungen in den 1890er-Jahren die Ursache der neurasthenischen Störung
267 Beard, American Nervousness, VI.
268 George
M. Beard, Die Nervenschwäche (Neurasthenia), ihre Symptome, Natur, Folgezustände und
Behandlung: mit einem Anhang, Leipzig 1883 [EA: 1881], o. S. (Vorwort des Übersetzers).
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463