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| 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche
Diskurse268
diesem Sinne schrieb Alfred Kubin an einen jungen tschechischen Kollegen über
sich:
„Und die Kraft ist auch der Ursprung der Kunst, doch die Nerven produzieren dann die
verfeinerte Kunstempfindung. Ich, Kubin, bin ein Märtyrer der Nerven, und damit auch
Schaffender und Genießer in der Feinheit derselben.“273
Von den in dieser Studie analysierten KünstlerInnen verstand sich vor allem Alfred
Kubin selbst als Paradefall eines Neurasthenikers. Der Begriff der „Nerven“ domi-
nierte seine umfangreiche Korrespondenz mit Freunden und Kollegen – wie im obi-
gen Beispiel sichtbar auch noch zu einem Zeitpunkt, als die Neurasthenie als „Mo-
dediskurs“ schon lange keinen Bestand mehr hatte. Kubin verwendete für sich selbst
auch häufig die Bezeichnung des Hypochonders, wobei die Hypochondrie durchaus
als Vorläufer des Neurasthenie-Konzepts verstanden werden kann.274 In Kombina-
tion mit seiner nostalgischen Haltung zur Vergangenheit bezeichnete er sich einmal
sogar als „k. k. österreichischen Hypochonder“. 1934, ein Jahr höchster politischer
Unruhe, schrieb er an seinen Verleger Reinhard Piper:
„Mir geht es so gut als es einem alten k. k. österr. Hypochonder gehen kann – [...]
Hauptsache ist dabei dass der Körper des Zeichners diese 3 Eigenschaften reichlich besitzt:
1. ein Falkenauge 2. die Hand eines Chirurgen 3. den Arsch eines Schusters – des Zeich-
ners Seele hingegen ist komplizierter –“275
„Des Zeichners Seele“ – über Seelenbefinden und Nervenzustand reflektierte Ku-
bin unaufhörlich. Auch das ein Merkmal, das NeurasthenikerInnen zugeschrieben
wurde: Eine besonders intensive Selbstbetrachtung, in der das Denken vorwiegend
um die eigene Befindlichkeit kreist. Auch hier findet sich somit wieder ein Anknüp-
fungspunkt, der den Neurastheniker in die Nähe des Künstlertypus, insbesondere
in seiner Ausformung des zeitgenössischen Genialitätstypus, bringt. Radkau spricht
davon, dass „der Kult der Nerven […] in den Bannkreis der Dekadenz und ihrer
snobistischen Egozentrik“ geriet.276 Tatsächlich gehörten Neurasthenie und der To-
pos der überspannten Nerven zum Repertoire der Zuschreibungen des modernen
Künstlers.
273 AK an František Holešovský, 18.11.1943, zit. nach Holešovský, Alfred Kubin und die tschechische
Kunst, 87.
274 Vgl. Radkau, Zeitalter der Nervosität, 34.
275 AK an Reinhard Piper, Zwickledt 5.1.1934, zit. nach Kubin/Piper, Briefwechsel, 329.
276 Vgl. Radkau, Zeitalter der Nervosität, 268.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463