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3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus | 269
Dieses Topos bediente sich auch Oskar Kokoschka, der den Begriff der Nerven
ebenfalls häufig verwendete. Wie sehr ein Leiden an den Nerven bzw. eine mögli-
cherweise bis zum „Irrsinn“ gesteigerte psychische Disposition zum Repertoire ei-
nes Künstlers des Fin de Siècle auch in Kokoschkas Verständnis gehörte, zeigt sehr
anschaulich eine Briefstelle aus dem Jahr 1911, in der er seinem Konkurrenten Max
Oppenheimer vorwirft, seinen „Entwicklungsgang“ für sich zu beanspruchen, und
dieser wird wie folgt charakterisiert:
„[…] er wurde in der Kunstschau entdeckt, er ist seit dem der Outsider, [der] von der
Kritik beschmutzt wird, er rückt in die Nähe ‚Grünewalds‘, er ist der einzige Moderne in
Wien, er sieht Gespenster, geheimste Seelenleiden, er wühlt mit Vorliebe in Wunden, er
wird im Irrsinn enden.“277
Ob und in welcher Intensität Kokoschka bereits vor dem Ersten Weltkrieg, wo er
durch einen shell shock zum „Kriegsneurastheniker“ wurde und sich einem langen
Sanatoriumsaufenthalt unterziehen musste,278 von neurasthenischen Beschwerden
betroffen war, ist schwer beantwortbar. Seine diesbezüglichen Aussagen wirken
mehr dem vorherrschenden Diskurs vom nervösen Künstler geschuldet, in manchen
Aussagen verweist er aber auf konkrete Leidenswahrnehmungen, wie beispielsweise
in einem Schreiben an Herwarth Walden 1912:
„Die Versendung der Bilder scheitert an meiner intensiven Nerven-Krankheit.“279
Die zeitgenössischen Forschungen und Entdeckungen im Bereich der Elektrizität
haben den Neurasthenie-Diskurs wesentlich geprägt, George Miller Beard war an
der Entwicklung von Elektrotherapiemethoden zur Behandlung der Neurasthenie
beteiligt. Die Vorstellung von Nerven, die ähnlich wie in Stromleitungssystemen
Impulse weiter geben, löste die davor bestehende Vorstellung von Nerven als Art
mechanisches Muskelsystem ab. Dieses Bild der gleichsam elektrifizierten Nerven
nahm auch Kokoschka auf. 1912 schrieb er an Alma Mahler:
„Alma, ich bin so mit Dir zusammen in der Nacht, daß ich Dich zu riechen und anzugrei-
fen glaube, und in der Frühe hat meine arme Familie sehr zu leiden, weil ich zu sehr laut
277 OK an Herwarth Walden [Wien, Mai/Juni 1911], zit. nach Kokoschka, Briefe I, 20. Hervorhebung
im Original.
278 Vgl. dazu Kapitel 4.2.2.
279 OK an Herwarth Walden [Wien, 21.4.1912], zit. nach Kokoschka, Briefe I, 31.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463