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| 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche
Diskurse270
schreie und zu heftig und scharf mit ihnen bin. [...] Meine arme Mutter leidet jetzt sehr
unter meiner Elektrizität, die Entladungen braucht, damit ich tagsüber klare Nervenherr-
schaft behalte.“280
In Kokoschkas Selbstaussagen finden sich somit – auch schon vor dem Ersten Welt-
krieg – Narrative, die auf den dominanten Nervendiskurs verweisen. Was sich de-
zidiert nicht findet, sind Hinweise auf die so genannte Modernitätsthese, das heißt
den Zusammenhang zwischen Nervenschwäche und beschleunigter Welt. Während
sich Kokoschka in seiner zu Lebensende verfassten Autobiographie über lange Stre-
cken äußerst technologie- und modernekritisch gibt, taucht ein solcher Diskurs in
früheren Aussagen noch kaum auf und scheint in Hinblick auf die Wahrnehmung
seiner nervlichen Konstitution nicht relevant.
Joachim Radkau verwies in seiner Studie darauf, dass Neurastheniker von vie-
lerlei Ängsten geprägt gewesen seien, politische Ängste aber keine oder nur eine
verschwindende Rolle gespielt hätten: „Bei den Vorkriegsneurasthenikern war die
Angst vor den Folgen der Onanie unendlich viel größer als die Angst vor Krieg.“281
Vieles spricht aber dafür, eine starke Verbindung zwischen Krieg und Neurasthenie
zu ziehen (auch schon für die Zeit vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs), wie
dies Hans Georg Hofer in seiner Studie nachdrücklich dargestellt hat.282 Im Falle des
Neurasthenikers Alfred Kubin lässt sich aus seinen Selbstaussagen schließen, dass
der jeweilige Zustand seiner Nerven sehr wohl von politischen Stressfaktoren ab-
hängig war. Sowohl bei Ausbruch und Fortgang des Ersten wie auch Zweiten Welt-
kriegs, aber auch bei anderen belastenden politischen Vorgängen, verschlechterte
sich nach seiner Darstellung sein nervlicher Zustand. Besonders der Ausbruch des
Ersten Weltkriegs, als Kubin direkt von einer möglichen Kriegsdienstverpflichtung
betroffen war, war für ihn eine große nervliche Belastung. Gleichzeitig war es aber
gerade sein psychischer Gesundheitszustand, der für eine dauerhafte Untauglichkeit
und damit die Befreiung vom Kriegsdienst verantwortlich war.
Sowohl für Kubin wie für Kokoschka nahm der Topos der Nerven somit eine
zentrale und in vielen Facetten äußerst zeittypische Rolle ein. Bei beiden darf die
„Nervosität“ als konstituierendes Element ihrer eigenen Konstruktion einer Künst-
lerpersönlichkeit betrachtet werden, in der die „übersteigerten Nerven“ zwar eine
individuelle Lebensbelastung, aber kein gesellschaftlich stigmatisiertes Defizit dar-
280 OK an Alma Mahler [Wien] 29.4.12, zit. nach Kokoschka, Briefe I, 34.
281 Radkau, Das Zeitalter der Nervosität, 424.
282 George
M. Beard entwickelte seine Thesen zum Krankheitsbild der Neurasthenie aus seinen Erfah-
rungen im amerikanischen Bürgerkrieg, vgl. dazu Hofer, Nervenschwäche und Krieg, 46 ff.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463