Page - 276 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
Image of the Page - 276 -
Text of the Page - 276 -
| 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche
Diskurse276
hatte, für „Teufelszeug“.301 Kubins Schwager Oscar A. H. Schmitz, den er bereits vor
der Heirat mit dessen Schwester Hedwig aus den Münchner Kreisen kannte und der
später regelmäßiger Gast in Zwickledt war, berichtete in seinen Tagebüchern über
die Teilnahme an spiritistischen Sitzungen. In Tagebucheinträgen aus dem Jahr 1896
von Schmitz heißt es:
„Wolfskehl und Fuchs waren hier. Mit ihnen, Philips und Richard eine spiritistische Sit-
zung. Wieder ist Großpapa erschienen. Mit Wolfskehl sprach er mittelhochdeutsch: ‚Bac-
calaureus betriege Dich nicht den Ehgemahl ei befehet Dein Geschmacke, femebige ah
zerbricht – Geilheit hindert Dich an allem Ehegemahl.‘ Wolfskehl ist gerade verlobt. Auf
unsere Fragen wurde geantwortet, ich sei der stärkste im Geist, der Tisch kam bis zu mir,
obwohl ich im Augenblick nicht an der Kette teilnahm. […] Wir haben eine Anzahl sehr
interessanter spiritistischer Sitzungen gehabt. Mir scheint, daß die geklopften Buchstaben
doch eher Manifestationen unseres Unbewußten sind.“302
Während die spiritistische Bewegung bis in die 1840er-Jahre zurückreicht, entstand
jene Bewegung, die für Künstler- und Intellektuelle in Bezug auf philosophische und
Glaubensfragen besondere Faszination ausübte, die theosophische Bewegung, erst
in den 1870er-Jahren. 1875 gründeten Helena Blavatsky und Henry Steel Olcott in
New York die Theosophische Gesellschaft, 1879 verlegte die Gesellschaft ihre Zen-
trale in das indische Madras. Viele Elemente der indischen Religionen, das heißt
speziell aus Buddhismus und Hinduismus, wurden von der Theosophie aufgenom-
men. Die beiden theosophischen „Bibeln“, das 1877 von Blavatsky herausgegebene
Werk „Isis Unveiled“303 und das 1888 erschienene „The Secret Doctrine“,304 erwiesen
sich als Kompilationen der okkulten und religionswissenschaftlichen Literatur des
19.
Jahrhunderts, wobei nicht nur Ideen übernommen und neu gemixt wurden, son-
dern bestehende Literatur einfach abgeschrieben wurde, wie für tausende Passagen
nachgewiesen werden konnte.305 Dies sorgte bereits zu Lebzeiten Blavatskys für Auf-
sehen und manche TheosophInnen wandten sich auch von ihr und der Gesellschaft
ab, generell waren die Anschuldigungen gegen Blavatsky aber nicht hinderlich für
eine breite Rezeption ihres Werks. Auch Alfred Kubin entwickelte ein intensives In-
301 Mairinger, Meine Verehrung, 119.
302 Schmitz, Das wilde Leben der Boheme, 141 (Einträge 23. u. 26.1.1898).
303 Helena Petrowna Blavatsky, Isis Unveiled, New York 1877 [dt.: Isis entschleiert. Ein Meisterschlüs-
sel zu den alten und modernen Mysterien, Wissenschaft und Theologie, 2 Bde., Leipzig 1907–09].
304 Helena Petrowna Blavatsky, The Secret Doctrine, London 1888 [dt.: Die Geheimlehre, 4 Bde., Leip-
zig 1919].
305 Vgl. Miers, Lexikon des Geheimwissens, 116; Kury, „Heiligenscheine“, 24.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463