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3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert | 279
(Ordo Novi Templi) gegründet.311 Im Selbstverständnis der Neutemplerbewegung
verwoben sich esoterisch-theosophische, völkisch-rassistische, lebensreformistische
und nicht zuletzt antifeministische Versatzstücke der Zeit. Auch Lanz von Lieben-
fels beschrieb „die Frau“, ähnlich wie Otto Weininger, als vornehmlich triebhaftes
Wesen, das durch ihre natürliche Promiskuität zum Niedergang der rassenreinen
Gesellschaft beigetragen habe.312 In der misogynen Argumentation mag neben ver-
schiedenen anderen Grundtendenzen ein Anknüpfungspunkt liegen, aus dem auch
Kubins Interesse an Lanz von Liebenfels entstanden war.
In Kubins Bibliothek befinden sich nicht nur zahlreiche Ausgaben der Ostara-
Hefte,313 sondern auch Liebenfels’ erstes größeres Werk aus dem Jahr 1904, die
„Theozoologie“.314 Darin hatte Lanz von Liebenfels eine krude Theorie entwickelt,
nach der die ursprünglich reinen Gottmenschen durch sodomistische Triebhaftig-
keit (des Weibes, in Gestalt von Eva) Menschenäfflinge, die so genannten „Sodom-
säfflinge“, hervorgebracht hätten. Durch die Dechiffrierung angeblicher Geheim-
codes, die den alten Schriften, allen voran der Bibel, zugrunde lägen, ging Liebenfels
der angeblichen Existenz der rassisch minderwertigen Tiermenschen bis in die Ge-
genwart nach. Nur durch künftige „Reinzucht“ sei es möglich, das mit „Sodoms-
wasser“ vermischte Blut wieder „hinaufzuzüchten.“ Dies sei nach Liebenfels die
Aufgabe der Männer, denn:
„Gar niemand anderer als das buhlaffenlüsterne Weib hat die alten Kulturen umge-
bracht und es wird auch unsere Kultur zertrümmern, wenn wir Männer uns nicht bald
besinnen.“315
311 Ordenssitz wurde 1907 die Burg Werfenstein im oberösterreichischen Strudengau. Zu Ordensre-
geln und Entwicklung des Ordens vgl. u.a. Goodrick-Clarke, Die okkulten Wurzeln, 96ff.
312 Vgl. dazu die Selbstdefinition in Ostara Nr. 21, Wien 1908 (hier zit. nach 3. Auflage von 1929),
wo es heißt: „Die ‚Ostara, Briefbücherei der Blonden‘ ist die erste und einzige illustrierte arisch-
aristokratische und arisch-christliche Schriftensammlung, die in Wort und Bild den Nachweis er-
bringt, daß der blonde heldische Mensch, der schöne, sittliche, adelige, idealistische, geniale und
religiöse Mensch, der Schöpfer und Erhalter aller Wissenschaft, Kunst, Kultur und der Hauptträger
der Gottheit ist. Alles Häßliche und Böse stammt von der Rassenvermischung her, der das Weib
aus physiologischen Gründen mehr ergeben war und ist, als der Mann. Die ‚Ostara, Briefbücherei
der Blonden‘ ist daher in einer Zeit, die das Weibische und Niederrassige sorgsam pflegt und die
blonde heldische Menschenart rücksichtslos ausrottet, der Sammelpunkt aller vornehmen Schön-
heit, Wahrheit, Lebenszweck und Gott suchenden Idealisten geworden.“ Ebd., 1.
313 Im Verzeichnis der Kubin-Bibliothek sind 27 Hefte angeführt. Vermutlich bezog Kubin die Hefte
erst ab der Zeit des Ersten Weltkriegs, das früheste Heft ist die Nr. 26, allerdings aus der dritten
Auflage von 1917, das letzte vorhandene Heft datiert mit 1919. Vgl. Marks (Hg.), Inventar, 200.
314 Liebenfels, Theozoologie.
315 Liebenfels, Theozoologie, 150.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463