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| 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche
Diskurse284
Dass der Künstler sich selbst als Buddhist sah und von seiner unmittelbaren Umge-
bung so bezeichnet wurde, geht auch aus den Erinnerungen seiner nächsten Um-
gebung an seinem Wohnort Zwickledt hervor. Zeitlebens war die buddhistische
Lebensausrichtung ihres Arbeitsgebers ein Problem für Kubins langjährige Haus-
hälterin Cilli Lindinger, eine strenggläubige Katholikin. So soll er auf ihre Vorwürfe,
er ginge nie in die Kirche, geantwortet haben:
„Du denkst, ich sollte beten? Weißt du denn nicht, daß ich öfter bete als du? Du meinst,
alle müßten dich sehen, wenn du betest, mit deinem Gott sprichst. Ich aber gehe durch
die Landschaft, achte die Natur, rede mit meinen Bäumen. [...] Deine Kirche brauche ich
nicht. Sie ist mir zuwenig, ich will mehr tun, als nur beten. Wir Buddhisten arbeiten an
uns, lösen uns vom Materiellen. Sicher bin ich noch in den Anfängen, werde Stufe für
Stufe stets erklimmen müssen, aber die Erleuchtung will ich doch einmal erlangen!!“331
Die Versuche, Kubin vor seinem Tod noch eine katholische Beichte abzuringen,
dürften gescheitert sein,332 das Totenbett aber war mit einem Kruzifix ausgestattet.
Für Kubins „Samsara“ war dies hoffentlich nicht hinderlich.
3.3.2 Aloys Wach, die Kabbala und Jesus Christus als „Okkultist“
„Heute, wo ich weiß, dass die Möglichkeit eines Kontaktes besteht mit den Strömen
des Astralen, heute weiß ich, dass ich damals als Kind naturhaft mich in diese
Ströme einfügen konnte und dadurch bildhaft schauen konnte und Unerklärliches sah, das
heute noch zum Teil in meiner Erinnerung haftet.
Es ist mir heute noch rätselhaft wie damals. Nur: als Kind schien mir das Erlebte
selbst verständlich, einfach, durchsichtig. Ich habe nicht gefragt.
Es war meine Welt.“ 333
Ähnlich wie Alfred Kubin betonte Aloys Wach seine Neigung zur Hellsichtigkeit.
Wie Kubin stellte auch Wach einen diesbezüglichen Zusammenhang mit seiner
Identität als Künstler her: Die Fähigkeit sehen zu können, was nicht alle sehen, habe
331 Zit. nach Mairinger, Meine Verehrung, 65 f. Die methodische Problematik dieser Quelle wurde
bereits thematisiert. Auch für dieses Zitat kann nicht davon ausgegangen werden, dass es wörtlich
genauso formuliert wurde, es gibt aber einen grundsätzlich guten Einblick in Kubins Argumenta-
tion gegenüber Lindingers Versuchen, ihn vom Buddhismus abzubringen.
332 Vgl. die Erzählung in Mairinger, Meine Verehrung, 107.
333 Aloys Wach, Biographische Notizen 1929 (mit Nachträgen 1931), Eintrag 15.7.1929.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463