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3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert | 303
nur schwer dechiffrierbare esoterische Metaphorik beschrieb Wach chronologisch
die Vorgänge in Aurolzmünster und seine eigene Rolle darin.
Begonnen habe alles damit, dass ein Freund Schappellers, der als „Chefredakteur“
bezeichnet wird, Wach über die jüngsten Entwicklungen am Schappeller’schen An-
wesen in Aurolzmünster informiert habe. Dort werde nach der Grabstätte des Hun-
nenkönigs Attila gegraben. Die Nachricht habe ihn überwältigt und das Abenteuer
Aurolzmünster nahm seinen Anfang:
„Ein Sturmwind rast über die Phantasie: unfaßbar, was in zwei fiebrigen Nächten und
Tagen an Eröffnungen einströmt. Überrannt kapituliert alle Überlegung und man ist –
nach diesen zwei Tagen – nur von einem Drang erfüllt: so schnell als möglich an den
Wunderort (den man wohl kennt, doch nie derart sah) zu eilen und – wie Sankt Thomas
– selbst dem Geheimnisvollen gegenüberzustehen. * Es vergehen Tage. Die Studierstube,
in der man – abseits der Betriebsamkeit rasenden Weltablaufes – sinnt und malt: sie ist zu
eng geworden. Die Bücher, die Ideen, die eine in sich ruhende Welt sind (Welt über der
Welt), sie sind plötzlich in die Ferne gerückt: so sehr warf der Einbruch, das Auftauchen
des sagenhaften Atlantis aus dem Schoß der Erde das bisherige Leben aus den Angeln. Die
Isoliertheit in den Weg lebensabseitiger Kunst war gesprengt: ein unbegrenztes Feld neuer
Tätigkeit lag offen: ein Ausgang in die Tat, die gerade jetzt wie Erlösung aus depressiver
Lethargie begrüßt ward! Mit tausend Freuden bereit, diesen schicksalhaften Glücksfall zu
nützen: völlig überzeugt durch die intensive Beredsamkeit des Chefredakteurs: man wollte
nach allen Kräften mithelfen – um dadurch der eigenen Arbeit Boden zu schaffen für die
Zukunft. So betritt man Aurolzmünster.“390
Wach beschrieb dieses Erlebnis zwar in distanzierender „man-Form“ (die er auch
weiterhin verwendet), allerdings eindrücklich als tiefe und befreiende Zäsur in sei-
nem Dasein als Künstler, als Aufbruch aus einer tiefen Lethargie. Kunst und Bücher
wurden als „lebensabseitig“ abgewertet, nun gebe es ein tatsächliches Ziel und ein
faszinierendes Vorhaben. Nach der anfänglichen Euphorie kamen aber die Zweifel.
Immer abstruser wurden die in Aurolzmünster diskutierten Theorien. So teilte der
Wünschelrutengänger mit, dass unter dem Grabe Attilas längere Gewölbe seien, dies
sei die obere Schicht der Anlage des sagenhaften Atlantis, in die Attila durch Zufall
eingedrungen sei und in der sich massenhaft Edelmetall befinde. Die euphorischen
Meldungen und ausbleibenden Grabungserfolge machten Wach zunehmend skep-
tisch:
390 Wach, Schin, der Herr der Zahl 22, 16.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463