Page - 309 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
Image of the Page - 309 -
Text of the Page - 309 -
3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten | 309
zepte als traditionell betrachtet werden müssen. Alle drei männlichen Künstler
lebten in Ehen, in denen die Geschlechterrollen traditionell verteilt waren. Sowohl
Hedwig Kubin wie auch Olda Kokoschka erfüllten – und das soll keine Abwertung
der jeweils herausragenden Individualität und Talente dieser beiden Frauen sein –
die „klassische“ Rolle der unterstützenden Künstler-Ehefrau, im Fall von Olda Ko-
koschka ging dies im Sinne der Nachlassbetreuung über den Tod des Ehemannes hi-
naus. Für die beiden Künstlerinnen Erika Giovanna Klien und Margret Bilger wären
– speziell in jungen Jahren – Ehe und Familiengründung eher eine Belastungsprobe,
wenn nicht sogar Ausschließungsgrund, keinesfalls aber eine Unterstützung für ihr
Künstlerinnensein gewesen.
Die vom Fin-de-Siècle-Geist der Jahrhundertwende geprägten Künstler Oskar
Kokoschka und Alfred Kubin waren zudem, stärker als dies in der bisherigen Bio-
graphik wahrgenommen wurde, sowohl in ihrem Werk als auch in ihrem Leben
zumindest in einer frühen Lebensphase von einem klar misogynen Geschlechterdis-
kurs geprägt. Die Thesen Otto Weiningers, die auf einer fast ausschließlich sexuellen
Konnotation von Frauen beruhten, trafen bei beiden Künstlern auf starken Wider-
hall. Im Fall Kubins konnte nachgewiesen werden, dass auch die zeitgenössisch viru-
lente Thematik der Geschlechtskrankheiten, speziell die lebensbedrohliche Syphilis,
eine zentrale Rolle in der Sicht und Wahrnehmung von Geschlechterzuschreibun-
gen spielte. Gezeigt wurde auch der Einfluss von Johann Jakob Bachofen, dessen
Theorien über ein Urmatriarchat in Künstlerkreisen stark rezipiert wurde. Im Be-
reich misogyner Argumentation konnte zudem eine Verbindung zu einem ebenfalls
bestehenden rassisch-esoterischen Diskurs hergestellt werden, der bei Kubin in der
Rezeption von Jörg Lanz von Liebenfels sichtbar wurde.
Die These, das Bild vom Künstler, zurückgehend auf den Typus des Künstlerge-
nies aus dem 19. Jahrhundert, sei ein dezidiert männliches, wie zuletzt von Verena
Krieger postuliert, konnte bestätigt werden. In den untersuchten autobiographischen
Zeugnissen zeigten sich die Schwierigkeiten, welche sich daraus für Frauen ergaben,
die künstlerisch tätig waren. Erika Giovanna Klien und Margret Bilger gehörten
zur ersten Generation von Frauen, denen eine künstlerische Ausbildung nahezu
gleichgestellt wie Männern möglich war, in der Praxis waren aber noch viele Türen
geschlossen. Noch problematischer erwies sich eine Vereinbarung vom männlich
assoziierten Künstlertypus und den vorherrschenden Weiblichkeitsbildern, die auch
in das Selbstbild der Künstlerinnen eingeschrieben waren. Gerade bei Margret Bil-
ger ließ sich aufzeigen, dass sie in ihrer eigenen Diktion „Mann und Frau“ in sich
wahrnahm, wobei sie ihren Drang zum Schöpferischen und den damit verbundenen
Wunsch, in „egoistischer“ Weise und nur auf sich bezogen als Künstlerin zu leben,
als männlich konnotierte. Ihre Schwierigkeit sich über eine lange Zeitstrecke nicht
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463