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4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie | 341
ger“ und dem Abbruch der Einjährigen-Ausbildung – versuchte Kokoschka seinem
Schicksal einen Schritt voraus zu sein und seine Position selbst zu bestimmen und
nicht auferlegt zu bekommen. Seine Haltung zur angestrebten „Übersetzung zum
Kriegsmaler“ war jedenfalls ambivalent. Einerseits war es eine Möglichkeit, nicht
wieder als normaler Soldat an die Front geschickt zu werden, andererseits schien
der Einsatz als gewöhnlicher Kriegsmaler wenig attraktiv. Im Juni 1916 schrieb er an
Ehrenstein: „[…] diesmal wahrscheinlich ins Pressequartier, welcher Absturz –“100
Was er mit „Absturz“ konkret meinte, lässt sich nicht eindeutig feststellen. Den
Absturz im militärischen Sinne, vom Dragonerregiment ins Pressequartier, oder den
Absturz im künstlerischen Sinn, vom freischaffenden Künstler zum Auftragsmaler?
Vermutlich beides. Aus den Briefen davor lässt sich schließen, dass Kokoschka ver-
sucht hatte, im Rahmen eines Einsatzes als Kriegsmaler Bedingungen zu erhalten,
die ihm gewisse Freiheiten ermöglicht hätten. Einmal schrieb er Ehrenstein, dass
es gut wäre, wenn er einen „staatlichen Auftrag“ bekäme, damit er „in der mir dro-
henden Kriegsmalerei das machen [könne], was ich wirklich zu sagen hätte, wozu
ich aber, um Ruhe zu haben, die Autorität vorzeigen muß.“101 Ein anderes Mal war
er wieder empört, noch nicht in der Kunstgruppe Aufnahme gefunden zu haben –
„was man eigentlich malen soll, um hier so gewürdigt zu werden wie der einfachste
Dilletant, weiß ich nicht.“102 Im Juli 1916 war es jedenfalls soweit, im Rahmen eines
Einsatzes in der KPQ-Kunstgruppe reiste Kokoschka an die Isonzofront. Von Kla-
genfurt aus schrieb er der Mutter, großes Glück gehabt zu haben, da er mit dem
„berühmtesten ungarischen Maler Rippel[sic]-Ronai“ nach Laibach fahren könne:
„Und zwar zu einem bekannt kunstfreundlichen Feldmarschall ins Oberkommando. Ich
führe die Gruppe und bin für alles, Arbeiten der Maler, Aufführung, Reise, Essen etc. ver-
antwortlich, direkt dem hiesigen Oberkommando. Ich werde dort 6 Wochen bleiben und
bekomme dann 6 Wochen Urlaub.“103
Tatsächlich waren die Einsätze der Kriegsmaler auf etwa sechs Wochen begrenzt
mit anschließendem Heimaturlaub, in dem die angefertigten Skizzen zu Gemälden
100 OK an Albert Ehrenstein, [Wien oder Klosterneuburg], 23.6.16, zit. nach Kokoschka, Briefe I, 240.
101 OK an Albert Ehrenstein, Wien, 31.5.16, , zit. nach Kokoschka, Briefe I, 238.
102 OK an Albert Ehrenstein, [Klosterneuburg], 13.6.1916, zit. nach Kokoschka, Briefe I, 238. Tatsäch-
lich dauerte es eine Zeit, bis Kokoschka zur Kunstgruppe kam, offenbar hatte er in der Zwischenzeit
– nach Ende der Krankschreibung – einer Aufgabe als Inspektionsoffizier in Lazaretten in und um
Wien nachgehen müssen, wie er seinem Freund Albert Ehrenstein mitteilte. Vgl. ebd.
103 OK an Romana Kokoschka, [Klagenfurt], 17.7.1916, zit. nach Kokoschka, Briefe I, 242. Zum Ein-
satz Rippl-Rónais als Kriegsmaler vgl. auch ÖStA, KA, KPQ, Karton 38, Fasz. Rippl-Rónai.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463