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| 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum
Nationalsozialismus356
ließ daraufhin ein Plakat affichieren, mit dem er sich an die gesamte Einwohner-
schaft Dresdens wandte:
„Ich richte an alle, die hier in Zukunft vorhaben, ihre politischen Theorien, gleichviel ob
links-, rechts- oder mittelradikale, mit dem Schießprügel zu argumentieren, die flehent-
lichste Bitte, solche geplanten kriegerischen Übungen nicht mehr vor der Gemäldegale-
rie des Zwingers, sondern etwa auf den Schießplätzen der Heide abhalten zu wollen, wo
menschliche Kultur nicht in Gefahr kommt. Am Montag, dem 15.
März, wurde ein Meis-
terbild des Rubens durch eine Kugel verletzt. Nachdem Bilder keine Möglichkeit haben,
sich von dort zu retten, wo sie nicht mehr unter dem Schutz der Menschheit stehen, und
auch weil die Entente einen Raubzug in unsere Galerie damit begründen könnte, daß wir
keinen Sinn für Bilder hätten, so fiele die Künstlerschaft von Dresden, die mit mir bangt
und zittert und sich dessen bewußt ist, solche Meisterwerke nicht selber schaffen zu kön-
nen, wenn die uns anvertrauten zerstört würden, die Verantwortung, einer Beraubung
des armen zukünftigen Volkes an seinen heiligsten Gütern nicht mit allen erdenklichen
Mitteln rechtzeitig Einhalt geboten zu haben. Sicher wird das deutsche Volk im Ansehen
der geretteten Bilder mehr Glück und Sinn finden als in sämtlichen Ansichten der po-
litisierenden Deutschen von heute. Ich wage nicht zu hoffen, daß mein Gegenvorschlag
durchdringt, der vorsähe: daß in der deutschen Republik wie in den klassischen Zeiten
Fehden künftig durch Zweikämpfe der politischen Führer ausgetragen werden möchten,
etwa im Zirkus, eindrucksvoller gemacht durch das homerische Geschimpfe der von ih-
nen angeführten Parteien. Was alsdann harmloser und weniger verworren wäre als die
jetzt üblichen Methoden. Oskar Kokoschka, Professor an der Akademie der bildenden
Künste in Dresden“153
Seinen Eltern in Wien berichtete er über die Vorgänge im März 1920:
„Wegen der Schießerei braucht Ihr Euch nicht aufzuregen. Die Deutschen sind eben so,
daß sie gleich sich totschlagen wollen aus lauter Rechthaberei. Sie haben eben keine Au-
gen, sondern nur Ideen, die nicht lebensfähig sind, weil sie das Leben nicht sehen wollen,
das so herrlich ist, sondern nur sich selbst und dann noch irgendein Ausgeklügeltes, das
sie Staat, Menschheit oder Wahrheit oder weiß der Teufel wie nennen. Mich geht dieses
Gehabe nichts an, ich muß meine Bilder malen, deshalb komme ich auch nirgends dazu,
in so unerquickliche Dinge gezerrt zu werden.“154
153 Offener Brief an die Einwohnerschaft Dresdens, [Dresden, Ende März 1920], hier zit. nach Ko-
koschka, Briefe II, 12.
154 OK an Gustav und Romana Kokoschka, [Dresden] 31.3.1920, zit. nach Kokoschka, Briefe II, 13.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463