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4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ | 361
Kriegsdienst für die k.
u.
k. Armee kehrte Wach in die Stadt zurück, in der sich 1918
die politischen Ereignisse überschlugen. Wie schon für Dresden skizziert, hatte sich
auch in Bayern im Zuge der Novemberrevolution von 1918 ein auf Räten basie-
rendes Regierungssystem gebildet, das seine Zustimmung nicht zuletzt bei vielen
KünstlerInnen fand. Während in Österreich vor allem durch die Haltung zentraler
sozialdemokratischer Führungspersonen wie Victor Adler das Drängen einzelner
Gruppierungen nach einem politischen Rätesystem verhindert wurde, etablierte sich
in dem am 7.
November 1918 ausgerufenen „Freien Volksstaat Bayern“ ein auf Räten
basierendes Regierungssystem unter der Leitung des linken Flügels der Sozialde-
mokraten, der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD),
angeführt von Kurt Eisner. Nach Vorbild der Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte
setzte sich auch ein „Rat der bildenden Künstler“ zusammen. Jüngere, politisch wie
künstlerisch radikaler denkende Künstler fanden sich in diesem Rat bald zu wenig
vertreten und bildeten Anfang 1919 eine eigene Organisation mit der Bezeichnung
„Aktionsausschuß revolutionärer Künstler“ (ARK).168 Als publizistisches Organ des
ARK fungierte die Zeitschrift „Der Weg“, die von Januar 1919 bis Oktober 1919 in
zehn Heften erschien.
Nach der Ermordung Kurt Eisners im Februar 1919 verschärfte sich die ange-
spannte politische Situation: Die Arbeiter- und Soldatenräte bildeten eine neue
Koalitionsregierung unter Führung des Sozialdemokraten Johannes Hoffmann, die
allerdings am 7.
April nach einem Aufstand der USPD aus München fliehen musste,
während dort unter Ernst Toller die „Räterepublik“ ausgerufen wurde. Die kurze
Periode, in der diese an der Macht war, bedeutete die Blütephase des „Aktionsaus-
schusses revolutionärer Künstler“. Der neue „Volksbeauftragte für Volksaufklärung“,
der Schriftsteller und Anarchist Gustav Landauer, übertrug dem ARK die Durch-
führung eines neuen Kulturprogramms, zu dem unter anderem die Entlassung
sämtlicher Professoren aus der Akademie der Bildenden Künste gehören sollte.169
Die Kunst – besser gesagt die moderne Kunst in Form des Expressionismus – er-
langte in dieser kurzen Zeit einen zentralen Stellenwert: Nicht nur Kunstzeitschrif-
ten, auch die Tagespresse, über die Landauer nun bestimmen konnte, brachte lange
Abhandlungen über Kunst. Auf den Titelblättern der Münchner Tageszeitungen wa-
ren expressionistische Holzschnitte abgebildet – und nicht wenige davon stammten
von Aloys Wach.
168 Joan Weinstein, Die Neugestaltung des Kunstlebens in der Münchener Revolution, in: Friedel/
Hoffmann (Hg.), Süddeutsche Freiheit, 17–28, 19.
169 Weinstein, Die Neugestaltung des Kunstlebens, 20 f.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463