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4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ | 367
sant ist diesbezüglich eine Zeugenaussage, die Wachs Engagement für linke politi-
sche Ziele mit seinem religiösen Interesse in Verbindung setzt. Im Verfahren gegen
die Künstlerin Lessie Sachs sagte die Zeugin Sofie Jacobi Folgendes aus:
„Zur Zeit bin ich Mitglied der USP [Anm.: Unabhängige Sozialdemokratische Partei].
Dies kam so: Ich bin bekannt mit dem Kunstmaler A. Wachelmeier; dieser wird, wie ich
glaube, gesucht, jedenfalls kam ein Offizier in meine Wohnung und hielt mir vor, daß ich
mit W. bekannt wäre. Wachelmeier riet mir seinerseits zum Schutz gegen die Rote Garde,
ich solle mich einfach in die USP aufnehmen lassen. Wachelmeier kam öfters in meine
Wohnung, er hielt dort Unterredungen über Kommunismus, aber hauptsächlich nur
nach religiöser Seite hin, W. ist religiöser Schwärmer. Der Kunstmaler Wachelmeier hat
München verlassen. Seine Idee war nebenbei die Enteignung. Er schwärmte für Gleichheit
und Brüderlichkeit.“186
Von einem „linken Revolutionär“ scheint der spätere Maler von Heiligenbildern
und Bauernkriegsszenen zunächst zwar weit entfernt, betrachtet man aber sein
in dieser Studie bereits skizziertes, ideologisch nur schwer einzuordnendes esote-
risches Gedankengut, lassen sich für Wachs „Kommunismus“ und seine religiöse
„Schwärmerei“ durchaus Verbindungslinien herstellen. Für Wach, der vor allem in
Paris, aber auch in Österreich und Deutschland vor 1918 mit der prekären Lage von
KünstlerInnen konfrontiert war, müssen die Anliegen der Münchner Rätebewegung
in Bezug auf die Kunst von großer Attraktivität gewesen sein. Der Kunst, speziell
dem Expressionismus, dem Wach sich damals zugehörig gefühlt hatte, wurde hohe
gesellschaftliche Anerkennung zugesprochen, es wurde über soziale Rahmenbedin-
gungen und bessere Absicherungen für Künstler diskutiert ebenso wie über Neu-
ordnungen im Bereich des Galerie- und Kunstmarktwesens, die verhassten konser-
vativen Vertreter der Akademie mussten ihre Posten verlassen. All das muss einen
jungen, engagierten, aber noch nicht arrivierten Künstler wie Wach zutiefst angezo-
gen haben. Seine spätere Absage an den Expressionismus mag wohl auch Ausdruck
der Enttäuschung darüber gewesen sein, dass die hier entwickelten Hoffnungen
keine Entsprechung gefunden haben.
186 Staatsarchiv München, Lessie Sachs, StAnw. Mü I, 2884, zit. nach Friedel/ Hoffmann (Hg.), Süd-
deutsche Freiheit, 212.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463