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4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ | 379
wiederholt die Schulden geregelt, seither trägt er offiziell die geweihte Kerze und ist mili-
tanter Katholik von Gnaden Mussolinis. Jetzt bleibt das Geld von Rom aus, und er über-
legt, ob er Österreich dem Hitler anbietet oder irgend einem europäischen Bankkonzern,
weil er schon wieder fürchterliche Schulden hat. Vor einer Woche hat er in Wien wieder
einen neuen Terror angedroht. Wenn man nicht seiner Heimwehrpartei beitritt – das will
sagen, keinen Parteibeitrag leistet –, wäre man ein Landesverräter und als solcher zu ver-
nichten! Frei nach Streicher. Und so was lassen die Hofleute bei Euch als Vertreter des
österreichischen Volkes mit dem neuen König verhandeln? Bitte, Du mußt sofort die Sozi-
alistenzeitungen bei euch aufputschen. Dieser Gigolo ist nur der Repräsentant der Halsab-
schneider, Pfaffen und Wucherer bei uns, sonst wünscht ihn jedermann zum Teufel, leider
nicht laut, weil es keinerlei Instanz bei uns gibt, wo man solche Gangster verklagen kann,
ohne aufgehängt zu werden.“215
Entgegen seiner Ankündigung, nur mehr in Addis Abeba ausstellen zu wollen, wil-
ligte Kokoschka aber in das Wiener Ausstellungsprojekt ein, das Carl Moll bereits
1936 plante und das 1937 tatsächlich realisiert wurde. Er beteiligte sich auch persön-
lich an der Auswahl und Zusammenstellung der Werke, zur Eröffnung kam er aller-
dings nicht nach Wien. Sein damit verbundener Versuch sich zu distanzieren, wurde
ihm von den opponierenden ideologischen Seiten nicht gelohnt: Während sich
Ausstellungsorganisator Carl Moll bei Kokoschka beschwerte, mit seinem Fernblei-
ben „Politik zu machen“, hielt ihm die andere Seite vor, sich vereinnahmt haben zu
lassen. Konkret musste sich Kokoschka bei Vertretern des Österreichischen Werk-
bunds rechtfertigen, wobei der Hintergrund komplex und ebenfalls politisch zu se-
hen ist: Der Österreichische Werkbund bestand seit 1912 als wichtiges Forum zu
Auseinandersetzung mit gegenwärtiger Alltagskunst und Architektur. 1933/34 kam
es im Zuge der politischen Spannungen zur Spaltung und Neugründung eines im
Vergleich zur früheren Vereinigung wesentlich konservativeren und stärker rechts
gerichteten „Neuen Werkbundes“ unter Präsident Clemens Holzmeister. Ebendieser
„Neue Werkbund“ fungierte als Veranstalter der Kokoschka-Ausstellung, was dem-
entsprechend die Kritik der alten Werkbundmitglieder hervorrief, die Kokoschka
gewissermaßen Verrat unterstellten.216 In Kokoschkas Schreiben an den Werkbund,
in dem er auf den Vorwurf reagierte, zeigt sich deutlich seine eigene Ambivalenz: Er
verteidigte zwar das Ausstellungsprojekt und stellte sich bezüglich der Veranstalter
verheiratet mit der Schauspielerin Hedy Lamarr, die ihn 1937 verließ und Karriere in den USA
machte.
215 OK an Anna Kallin, [Prag, Februar 1936], zit. nach Kokoschka, Briefe III, 29
f.
216 Vgl. dazu auch Sultano, „Eine Art Schwanengesang“, 19
ff.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463