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4.4 Nationalsozialismus | 387
„Die Superiorität der Rasse ist ein zu schmackhafter Leckerbissen für das Menschenvieh-
zeug, als daß es diesen so leicht fahren ließe: wo Geburt bereits Verdienst ist, wird man
sich keine weitere Mühe mehr geben; sondern fest und stramm dafür sorgen, daß dieses
Urverdienst nie geschmälert werde. Ich bin entsetzt, daß man in einem ‚Kultur‘-Parla-
ment solche Bestien auch nur duldet; entsetzt, nicht weil ich Jude bin, sondern überhaupt.
‚Rasse‘, theoretisch vielleicht (?) ein netter Begriff, ist praktisch Mist und führt nie zum
Frieden, denn kein einziger Mensch kann es sich jemals gefallen lassen, sich von Geburt
her als ‚niedrig‘ bewerten und demgemäß behandeln zu lassen. Ich wünsche allen Deut-
schen die Verachtung der anderen ‚Rassen‘ auf den Hals, damit sie diese Pest wohl am
eigenen Leibe auskosten, mit der sie die Juden so gern infizieren.“233
In einem weiteren Brief führte Friedländer das Thema weiter und griff dabei einige
von Kubins großen Heroen, wie die Philosophen Schopenhauer und Klages, an:
„Die Loreleyen Schopenhauer und Nietzsche und ihre dürftigen Abklätsche von Speng-
ler bis Freud und Klages verführen romantisch zum Untergang der Jugend und Zukunft.
[...] Das höchste Glück der Erdenkinder, ihre Persönlichkeit, wird ‚rassig‘ verstänkert. [...]
Der Begriff ‚Rasse‘, bereits rein naturwissenschaftlich so problematisch, ist im ethischen
Verstande glatte Pöbelei. Kommt man uns mit so niederträchtigem Mist, so trumpfe ich
im Gegenteil auf, daß der Jude, wenn es Rasse gibt, ohne Zweifel die alleredelste ist, wenn
man nicht pöbligerweise ausgerechnet diese Rasse nach ihren niedrigsten Exemplaren
beurteilt; während sich jeder Blondflatsch von ‚Arier‘ nur immer nach Wotan, Goethe,
Wiking und Beethoven beurteilt.“234
In seinem Antwortbrief ging Kubin inhaltlich nicht auf Friedländers Argumentation
ein, sondern tat diese vielmehr als „Krisis“ bzw. Überreaktion ab:
„Lieber Freund und Doktor, daß Sie sich so furchtbar aufregen können über diesen Ras-
senblödsinn! nun ich glaube die Krisis ist nun ‚abreagiert‘ und Sie sehen klarer die vielen
Dinge die uns positive auch noch bleiben – Merkwürdig: wie oft haben Sie mich in vergan-
genen Jahren aufzurichten versucht und nun, quälte Sie ein solche Sinnlosigkeit die sich
früher oder später doch erledigen muß?“235
233 Friedländer an AK, 20.10.1930, zit. nach Salomo Friedländer-Mynona/Alfred Kubin, Briefwechsel.
Hg. von Hartmut Geerken, Wien, Linz 1986, 174.
234 Friedländer an AK, 2.7.1932, zit. nach Friedländer-Mynona/Kubin, Briefwechsel, 176 f.
235 AK an Friedländer, Zwickledt 9.7.1932, zit. nach Friedländer-Mynona/Kubin, Briefwechsel, 177.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463