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4.4 Nationalsozialismus | 401
bekannt wurde, ist gelegentlich der Eröffnung des ‚Hauses der Deutschen Kunst‘ zu Mün-
chen am 19. Juli 1937 durch den Chef der deutschen Regierung eine ganze Reihe von
Künstlern […] mit gröbsten Beschimpfungen und gefährlichen Drohungen überhäuft
worden. Zu gleicher Zeit wurde in München eine ‚Schau entarteter Kunst’ eröffnet, als
eine Art Schreckenskabinett gedacht, als Gegensatz zur ‚reinen‘, vom Chef der deutschen
Regierung anerkannten und erlaubten Kunst. […] Der Widerhall, welchen die Rede des
deutschen Reichskanzlers bei der Zuhörerschaft gefunden hat, läßt, schon wegen des pro-
pagandistischen Effektes auf die Massen, die Befürchtung begründet erscheinen, daß die
deutschen Behörden, dieser Anregung folgend, nunmehr einen Bildersturm in die Wege
leiten werden, um die von ihrem höchsten Chef angeregte ‚Säuberungsaktion‘ in Wirk-
lichkeit umzusetzen. Die hierdurch heraufbeschworene Gefahr der Vernichtung von Wer-
ken deutscher Künstler – keineswegs ein bloß symbolischer Akt, wie die im Jahre 1933
veranstaltete Bücherverbrennung – bedroht auch die Existenz eines beträchtlichen Teiles
des Lebenswerkes des Gefertigten […]
Ferner bittet der Gefertigte, daß der leider nur geringfügige Teil seines Werks, welcher sich
im Augenblick sicher vor dem Zugriff der National-Sozialistischen ‚Säuberungsaktion‘ in
der vom Österreichischen Museum anläßlich der Feier seines fünfzigsten Geburtstages
veranstalteten und von den Behörden eröffneten Ausstellung befindet und jener in der
von Herrn Hofrat Dr. Stix im Auftrage der Österreichischen Regierung zunächst in Pa-
ris (augenblicklich in Bern) veranstalteten österreichischen Kunstausstellung befindliche,
nicht retournieren werden möge, soweit diese Werke von reichsdeutschen Museen entlie-
hen wurden, ohne daß vorher eine amtliche Entschuldigung, beziehungsweise eine bin-
dende Garantie-Erklärung seitens der reichsdeutschen Behörden erfolgt. [...]“275
Dass der Aufforderung Kokoschkas aus rechtlichen und politischen Gründen nicht
entsprochen wurde, verwundert nicht. Vor diesem Hintergrund ist es bemerkens-
wert, dass es Richard Ernst als Direktor des Österreichischen Museums für Kunst
und Industrie gewagt und geschafft hat, durch eine Verlängerung der Ausstellung
275 ZBZ, Nachlass O. Kokoschka, Fasz. 466.10, OK an Kurt Schuschnigg, Mähr. Ostrau, 3.8.1937. Auf
den Durchschlag des im Nachlass erhaltenen Briefes hat Kokoschka handschriftlich hinzugefügt:
„unbeantwortet geblieben obwohl von 3 verschiedenen Stellen eingereicht“. Der Brief ist auch
ediert in: Kokoschka, Briefe III, 49 ff. Seiner Biographin Edith Hoffmann notierte Kokoschka in
den Korrekturfahnen des 1943 verfassten „Life and Work“, dass sie in Bezug auf dieses Ereignis den
Namen Schuschniggs nicht erwähnen dürfe, „weil er angeblich noch im Konzentrationslager lebt“.
ZBZ, Nachlass O. Kokoschka, Karton 632, Fasz. 632.1.2, fol. 56.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463