Page - 411 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
Image of the Page - 411 -
Text of the Page - 411 -
4.4 Nationalsozialismus | 411
Wegen ihrer Mitgliedschaft in der (illegalen) nationalsozialistischen Studentenschaft
wurde Irmtraut Bilger 1935 verhaftet und verbrachte mehrere Tage im Gefängnis.
Ihre Schwester Margret schrieb an die befreundete Familie Frommel in Heidelberg:
„Auch mit Irms waren Sorgen, sie war eingesperrt und nun kann sie wohl keinen Beruf
haben.“305
Margret Bilgers Bruder Ferdinand hingegen engagierte sich – in Opposition zu Va-
ter und Elternhaus – als linksbewegter Sozialist und nahm als Mitglied der Inter-
nationalen Brigaden am Spanischen Bürgerkrieg teil.306 Seit 1933 war der promo-
vierte Chemiker mit der aus Kroatien stammenden Maria Biljan verheiratet, die als
Bildhauerin und Keramikerin tätig war und die politischen Ansichten ihres Mannes
teilte. Wie Aussagen Margret Bilgers zu entnehmen ist, stand sie in der komplexen
politischen Konstellation ihrer Familie zumindest Mitte der 1930er-Jahre noch eher
auf der konservativen beziehungsweise nationalen Seite und missbilligte die Aktivi-
täten und den Freundeskreis des Bruders. An Helene Frommel schrieb sie:
„Das mit der Schwägerin [Anm.: Maria Biljan-Bilger] ist wirklich arg geworden und es ist
nur unendlich schwer zuzusehn, wie Ferdl in einen Kreis gezogen wird von Menschen,
die ihm doch nicht Freunde sind, Freunde, Bekannte von der Schwägerin, meist Juden. Er
passt nicht hinein, […]“307
Ihr Bruder Ferdinand war aber nicht der Einzige in Margret Bilgers nächster Umge-
bung, der politisch linksgerichtet war. Ihre enge Freundin Elisabeth Karlinsky, mit
der sie seit ihrer gemeinsamen Zeit an der Wiener Kunstgewerbeschule in engem
brieflichen Kontakt stand, war Kommunistin und nach ihrer Verheiratung mit dem
dänischen Schriftsteller Hans Scherfig in der dänischen Kommunistischen Partei
organisiert. Im Zuge eines Besuches bei Karlinsky-Scherfig in Dänemark 1936 prall-
ten für Margret Bilger die politischen Welten aufeinander, besonders als sie bei der
Rückreise mehrere Aufenthalte in Städten des mittlerweile nationalsozialistischen
Deutschlands absolvierte. Sie fühlte sich zwischen den sie umgebenden verschie-
305 Bilger-Archiv, MB an Helene Frommel, Graz 10.11.1935. Hier zit. nach Bilger, Briefe an die Fami-
lie, unveröff. Transkript von Melchior Frommel.
306 Zur Biographie von Ferdinand Bilger vgl. Günter Eisenhut, Biographische Skizzen: Ferdinand Bil-
ger, in: Günter Eisenhut/Peter Weibel (Hg.), Moderne in dunkler Zeit. Widerstand, Verfolgung und
Exil steirischer Künstlerinnen und Künstler 1933–1948, Graz 2001, 146–157.
307 Bilger-Archiv, MB an Helene Frommel, Graz 26.8.1935. Hier zit. nach Bilger, Briefe an die Familie,
unveröff. Transkript von Melchior Frommel.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463