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| 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum
Nationalsozialismus412
denen Freundschafts-, Bekanntschafts- und Familienkreisen, die ihr persönlich alle
wichtig waren, politisch verloren beziehungsweise verwirrt. Über ihre Eindrücke
berichtete sie in einem Brief an ihren damaligen Ehemann Markus Kastl:
„Liesl [Anm.: Karlinsky] leistet so viel. Sie malt um zu verdienen hat den kleinen Buben
der sehr viel Zeit u. Raum braucht u. wild oft nach seiner Mutter schreit. […] Dann wa-
ren wir bei einem dortigen sehr begabten Architekten in einer ganz modernen Wohnung
mit breitem Glasfenster auf die Wasser u. Bäume. Dort war elektrische Küche Warm- u.
Kaltwasser. Liesl sagte darum seien sie Kommunisten dass alle solche Wohnungen bekä-
men. […] Über Deutschland sprach ich nicht, sie denken dort dieselben Greuel wie man
hier von Russland denkt. Beide Länder sind gross u. in beiden geschieht im Verhältnis
Schreckliches. […] Dann war ich bei Kostron in Hannover wo ich wieder […] vieles sah.
Vor allem neue Ausstellungen Rassenausstellungen u.s.w. Hier waren in einer Ausstellung
10 Preise an Künstler verliehen sodass man sah es wird sich darum bemüht. Die Kunst ist
mittelmäßig u. die Spührnase [sic] der Juden fehlt. Dieses Missverständnis der Kunst ist
auch in Russland. […] Mich regen die Sachen jetzt immer so auf umsomehr weil meine
beste Freundin so stark an Kommunismus glaubt u. ich doch sehe was dort auch alles
Schreckliche geschieht. (auch hier): Es ist alles wie vor dem Krieg. […] Ich war in einer
Rassenausstellung dieser Satz von Hitler fiel mir auf: Bei dieser Rassenvergiftung muss ein
Volk das auf sein Blut sieht zum Herren der Erde werden. Es war auch eine neue Kunst-
ausstellung u. vieles andere überaus Interessante.“308
Besonders ausführlich schrieb sie nach der Dänemark- und Deutschlandreise an
eine Freundin in Berlin, Luis(e) Fier, die offenbar überzeugte Nationalsozialistin
war:309
„In der Bahn sprach ich mit S.A. leuten. Immer wieder hörte ich von ihnen, ‚wir haben
es schon weiter gebracht hier als ihr, was?‘ Ich habe immer gelacht und habe gesagt: ‚Ihr
habt ja den Hitler.‘ Dann aber fragte ich einmal, ‚was macht ihr denn eigentlich u. was für
Unterschied ist zwischen euch und dem Militär?‘ Sie sagten: ‚Wir sind Volksaufklärer.‘ Ich
308 Bilger-Archiv, MB an Markus Kastl, Heidelberg 9.11.1936. Hier zit. nach Bilger, Briefe an die Fami-
lie, unveröff. Transkript von Melchior Frommel.
309 Im Nachlass Margret Bilgers finden sich zwei Brieffragmente – möglicherweise Entwürfe – und
ein abgestempelter Brief an Luis Fier, wobei unklar ist, wie dieser wieder zurück in Bilgers Besitz
kam. Unklar ist auch, woher sich Bilger und Fier kannten, möglicherweise vom gemeinsamen Stu-
dium in Wien oder aus der Wandervogelbewegung. Die Briefe finden sich (als Ergänzung zum
Briefwechsel Bilgers mit Elisabeth Karlinsky) in: Bilger-Archiv, Margret Bilger-Elisabeth Karlinsky.
Briefwechsel. Unveröff. Transkript von Melchior Frommel, 33 ff.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463