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4.4 Nationalsozialismus | 413
fragte, wozu sie denn den Dolch hätten u. die Uniform, da machten sie Späße. Aber als ich
von Österreich erzählte, sagten sie immer wieder, dort seien ja noch die Juden, das wäre
ja klar, daß es da so zugehe. Ich fand bei der S.A. ein Spieß- und Kleinbürgertum, immer
wieder die dicken Bäuche.“310
Sie schrieb weiter, dass sie von deutschen Emigranten in Dänemark von Gräueltaten
erfahren habe, die im nationalsozialistischen Deutschland begangen würden, und
bat ihre Freundin um Aufklärung, ob dies zutreffen könne. Ihr Bild vom Nationalso-
zialismus bekam erste Trübungen, der Freundin versicherte sie aber dennoch:
„Du darfst nicht glauben, dass ich über all das Negative ein grosses Ziel übersehn könnte.
Meine eigne Einstellung kristallisiert sich nur mehr u. mehr u. es ist mir lieber Tatsachen
zu wissen, als diese leere optimistische Begeisterung. [...] Du bist so unglaublich grossmü-
tig u. sagst ich gehöre mit. Viele andre wären da gewiss sehr dagegen, denn ich glaube an
die Rassensache gar nicht. [...] Für mich bist du allein noch der zusammenhaltende Begriff
für den NAT.SO. wie ich ihn verstehe.“311
Eigene Wahrnehmungen und die Gespräche mit politisch unterschiedlich eingestell-
ten Personen führten dazu, dass sich Margret Bilger auf ihrer Dänemark-Deutsch-
land Reise 1936 erstmals intensiv mit den Auswirkungen nationalsozialistischer
Politik auseinandersetzte. Ihr zuvor offenbar romantisch-idyllisiertes Bild bekam
Risse. Ihrer Schwester schrieb sie:
„Ich war oft ganz müde von den Eindrücken jeder Mensch ist so an Politik beteiligt u. nie-
mand fast ist frei davon, auch Liesl gar nicht u. Frieder gar nicht, das war sehr anstrengend
für mich u. ich bin aber doch endlich für mich klarer geworden.“312
Auch in Bezug auf die Kunstpolitik zeigte sich für Bilger auf ihrer Deutschlandreise
ein Bild des Nationalsozialismus, mit dem sie nicht wirklich konform gehen konnte/
wollte. Einigen der in Deutschland mittlerweile verfemten KünstlerInnen, wie bei-
spielsweise Ernst Barlach, brachte Bilger große Verehrung entgegen, die neuen pro-
310 MB an Luis Fier, Heidelberg 5.11.1936, zit. nach Bilger-Karlinsky. Briefwechsel. Unveröff. Tran-
skript von Melchior Frommel, 35 f.
311 MB an Luis Fier, Heidelberg 13.11.1936, zit. nach Bilger-Karlinsky. Briefwechsel. Unveröff. Tran-
skript von Melchior Frommel, 39.
312 Bilger-Archiv, MB an Irmtraut Bilger, Innsbruck 5.12.1936. Hier zit. nach Bilger, Briefe an die Fa-
milie, unveröff. Transkript von Melchior Frommel.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463