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| 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum
Nationalsozialismus414
pagierten Künste fanden nicht immer ihr Gefallen. Über einen Ausstellungsbesuch
in Hannover berichtete sie an Luis(e) Fier:
„Die Ausstellung selbst war sehr sehr mittelmäßig. Die Preise waren aber meist auf Selbst-
porträts u. diese Selbstporträts sahen jedenfalls sehr ‚arisch‘ aus. Ich sah noch nie so viel
Selbstporträt u. der Zweck trat auch einleuchtend hervor. Aber der Wille Künstlern zu
helfen ist doch da, daß sie mittelmäßig sind ist ihre Angelegenheit. Ich hörte dort einen
Vortrag, daß man die brünstigen Farben nicht mehr will, daß die furchtbaren Gescheh-
nisse früher Tage vorbei wären u.s.w. Ich hätte gern mit diesem Künstler gesprochen, Mit-
telmäßigkeit hat noch nie ein Kunstwerk besessen. Es gibt so viele Mißverständnisse, es
ist aber die Aufgabe der Künstler, die Augen u. Ohren für alles Wahrhafte und Echte zu
schulen. Die Juden haben in ihrer großen Wachheit feine Spürnasen dafür gehabt. Mit ei-
nem Saaldiener hatte ich ein langes Gespräch. Er belehrte erst mich: er sagte ‚Die machen
Unterschied zwischen Kunst u. Kunst.‘ Ich habe ihm vieles erklärt. Er sagte oft, dies u.
jenes darf ich nicht sagen. Ich sagte, daß ich überzeugt bin, daß man im neuen Deutsch-
land die Wahrheit noch sagen dürfe. Er führte mich in ein (hinteres) Gemach, wo Barlach
unter vielen anderen hingestellt war, er machte mich auf Unsittliches aufmerksam. [...]
Liebermann hing dort noch im Saale, er sagte auf meine Frage, daß er als Jude noch hing?,
‚ja, aber man dürfe es nicht sagen, daß er Jude ist‘.“313
Insgesamt fiel ihr Resümee über ihre Eindrücke des nationalsozialistischen Deutsch-
lands eher negativ aus. An der letzten Station ihrer Rückreise angekommen, teilte sie
Elisabeth Karlinsky mit:
„[…] wenn ich wieder zu Euch käm tät ich nicht mehr von Deutschland reden, wenn auch
oft die Menschen fein sind, die Politik ist es nicht.“314
Ihre Ansichten, speziell zur Kunstpolitik, schärften sich noch, als 1937 in München
die „Große Deutsche Kunstausstellung“ im neu errichteten Haus der Deutschen
Kunst und die Ausstellung „Entartete Kunst“ stattfanden. An eine befreundete Fa-
milie schrieb Margret Bilger darüber:
„Gestern abends kamen Irms u. Franz [Anm.: Schwester Irmtraut Bilger und ihr späterer
Ehemann Franz Blum] zurück vom Haus d. Kunst München. Es ist über Erwarten traurig.
313 MB an Luis Fier, Heidelberg 5.11.1936, zit. nach Bilger-Karlinsky. Briefwechsel. Unveröff. Tran-
skript von Melchior Frommel, 35.
314 Bilger-Archiv, MB an Elisabeth Karlinsky, Innsbruck o.D. [vermutlich Dezember 1936].
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463