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| 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum
Nationalsozialismus420
Dass Werke von Kuratoren nicht angenommen werden, ist nicht grundsätzlich un-
gewöhnlich. Im Fall der oben angeführten Argumentation war aber sicherlich Vor-
sicht hinsichtlich einer möglichst guten Übereinstimmung mit dem vorgegebenen
nationalsozialistischen Kunstgeschmack mitbestimmend. Dass die Entscheidung
darüber, was nun passend oder zulässig ist, unterschiedlich ausfallen konnte, zeigt
sich darin, dass die in Graz abgelehnte Serie bei anderen Ausstellungen durchaus zu
sehen war. So schrieb Bilger im Oktober 1942 an ihren Vater:
„In Wien war guter Erfolg. Eybners schrieben, die Folge Mutter Mutter es hungert mich
wurde gehängt.“332
In einer Zeitungskritik zur hier genannten Ausstellung in Wien – die Herbstschau
der Gemeinschaft bildender Künstler in der Zedlitzhalle – wurde Bilger namentlich
hervorgehoben:
„Auch die Holzschnitte von Grete Kastl-Bilger offenbaren eine starke Begabung, abgese-
hen von einem respektablen technischen Können.“ 333
Dieses Beispiel zeigt, dass es eine einheitliche oder gar verlässliche Einschätzung
in Bezug auf die Kriterien für NS-zulässige Kunst vielfach nicht gab. Dass Bilger in
ihren Briefen dezidiert darauf hinwies, wenn die Serie „Mutter, Mutter“ ausgestellt
wurde, ist ein Zeichen dafür, dass ihr durch die Ablehnung in Graz diese perma-
nente Gratwanderung nur allzu bewusst war.
Auch an ihrem neugewählten Lebensmittelpunkt, in Oberösterreich, wurde Bilger
immer stärker wahrgenommen. In Justus Schmidt, dem Leiter der Kunstgeschicht-
lichen Abteilung des Oberösterreichischen Landesmuseums (damals: Museum des
Reichsgaues Oberdonau), der gleichzeitig stellvertretender Vorsitzender der Lan-
deskammer für bildende Künste war,334 fand sie einen Förderer. Schmidt veranstal-
tete noch 1944, als der Ausstellungs- und Museumsbetrieb im gesamten Deutschen
Reich bereits zum Erliegen gekommen war, im Landesmuseum Linz eine Graphik-
ausstellung unter Beteiligung Bilgers. Die Schau „Drei Künstlerinnen aus Oberdo-
332 Bilger Archiv, MB an Ferdinand Bilger [Vater], [Oktober 1942].
333 Wiener Tagblatt, 17.10.1942.
334 Zur Biographie von Justus Schmidt vgl. Birgit Kirchmayr, Raubkunst im ‚Heimatgau des Führers‘.
Aspekte, Zusammenhänge und Folgen von nationalsozialistischer Kulturpolitik und Kunstenteig-
nung im Reichsgau Oberdonau, in: Birgit Kirchmayr/Friedrich Buchmayr/Michael John, Geraubte
Kunst in Oberdonau, Linz 2007, 35–190, 90 ff.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463