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Revolte und Reife 022
denker der Wiener Moderne. Wagner lehnte den Rückgriff auf Stile der Vergangenheit
ab und postulierte eine »Naissance« mittels eines »Nutzstiles«, dessen Formen sich aus
Konstruktion und Funktion ergeben sollten. Wagner verband eine funktionale Gestal-
tungsweise, aus der teilweise außergewöhnliche Grundrisslösungen resultierten, mit ei-
ner reduzierten Bauornamentik, die sich einerseits aus Formen des Jugendstils bzw. der
Secession speiste und andererseits konstruktionsbedingte Merkmale selbst zum Orna-
ment erhob. Mit der Errichtung der Kirche am Steinhof ( 1906–1907 ) sowie der Wiener
Postsparkasse ( 1904–1906 ) demonstrierte Wagner paradigmatisch seine Vorstellungen
einer »Modernen Architektur«: Grundsätzlich lehnte er die teure Verwendung von Stein
für die Errichtung des Baukörpers ab und plädierte stattdessen für den Aufbau des Bau-
körpers mit preisgünstigem Ziegelmaterial. Um den Gebäuden trotzdem repräsentati-
ve Monumentalität zu verleihen, verkleidete er anschließend die Baukörper mit dünnen
Marmorplatten. Bemerkenswert ist, dass Wagner bei diesen Gebäuden gleich zweifach
der von ihm postulierten »Wahrheit in der Baukunst« zuwiderhandelte. Er vertuschte
nicht nur das billige Baumaterial, sondern täuschte zusätzlich eine funktionale Vorgangs-
weise vor, indem er die Platten mit markant ausgeprägten Nägeln befestigte. Tatsäch-
lich sind die Platten jedoch im Mörtelbett verlegt, und die funktional scheinenden Nä-
gel stellen eine rein ornamentale Ausgestaltung dar. Insgesamt lösten Wagners Theorie
ebenso wie seine häufig davon abweichende Praxis heftige Kontroversen unter Fachleu-
ten und Architektenkollegen aus. Nichtsdestotrotz zog er eine große Zahl äußerst talen-
tierter Studenten an, aus denen in der Folge viele bedeutende Architekten hervorgingen,
wie etwa Josef Hoffmann, Josef Plecnik, Leopold Bauer und Karl Ehn.
Als Rolf im Jahr 1909 in Wagners Meisterklasse eintrat, hatte die Wagner-Schule al-
lerdings bereits ihren Zenit überschritten. So wie der Meister selbst verloren sich die
Schüler in megalomanen Projekten, die jenseits aller Realisierungsmöglichkeiten la-
gen, und klassizierende oder heimatstilartige Formulierungen fanden vermehrt Ein-
gang in die Entwürfe. Otto Wagner selbst – wenige Jahre vor seiner Pensionierung
stehend – konnte bei keiner der Konkurrenzen für öffentliche Bauten mehr reüssie-
ren. Dennoch sind die Anregungen, die Rolf während seines Studiums bei Wagner er-
hielt, nicht zu unterschätzen.
Spätestens während seiner Sommerfrische-Aufenthalte in der Wachau entwickelte
Rolf auch eine große Tier- und Naturliebe, und außer einem Hund, den er auf seinen
Jagdausflügen mitnahm, gab es immer eine Reihe von Tieren, die er während der Som-
mermonate »auflas« und die er zum Teil sogar in die Stadtwohnung mitnahm. So be-
herbergte er in seinem Zimmer einmal zwei junge Füchse, einmal einen Uhu, einmal ei-
nen großen Hirschkäfer, der unter den Möbeln »wohnen« durfte. (Abb. 9)
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Untertitel
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Autor
- Inge Scheidl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Revolte und Reife 8
- Eine Künstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- Architekturentwürfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Übergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen für uns 230
- Sehnsucht nach Österreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273