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Revolte und Reife 036
milie mit den vier unmündigen Kindern beistand, mit dem Energiebündel nur schwer
zurande kam. Kurze Zeit später heiratete der Vater jedoch die Schwester seiner verstor-
benen Frau, die gleichfalls den Namen Hermine trug, und diese Beziehung erwies sich
nicht zuletzt deshalb als sehr geglückt, da die Tante eine sehr gute Mutter für die vier
Kinder wurde. Die junge Hermine ( Mädy ) kehrte wieder nach Bukarest zurück und ver-
brachte im Kreis der Familie eine glückliche Kindheit und Jugend.
Nachdem Hermine die Schule mit 16 Jahren abgeschlossen hatte, erhielt sie in ver-
schiedenen Fächern Privatstunden, um, wie es damals üblich war, die Zeit bis zu einer
Heirat zu überbrücken und sie für das Leben in gehobenen Kreisen – aus denen der
künftige Ehemann selbstverständlich rekurriert werden sollte – vorzubereiten. Sie lern-
te Klavier spielen, zeichnen, tanzen, Französisch und gesellschaftliche Etikette. Da Her-
mine jedoch keine Absicht hatte, allzu bald zu heiraten, strebte sie einen Beruf als De-
signerin und eine entsprechende Ausbildung an. Die verlockendsten Ausbildungswege
und klingendsten Professorennamen für künstlerische Gestaltung wiesen damals alle in
eine Richtung, nämlich nach Wien. Sämtliche Fähigkeiten, die Hermine zeigte, deuteten
darauf hin, dass sie für den Beruf als Innendekorateurin geeignet sei, und sie setzte al-
les in Bewegung, um einen Studienplatz in der Wiener Kunstgewerbeschule zu erlangen.
1863 gegründet, war die Kunstgewerbeschule dem Österreichischen Museum für
Kunst und Industrie angeschlossen und bot neben der künstlerischen und kunstgewerb-
lichen Ausbildung auch die Möglichkeit zum Architekturstudium. Bedeutende Architek-
ten, die sich auch mit kunsthandwerklichen Entwürfen beschäftigten, zählten zu den Pro-
fessoren dieser Schule, die unter dem Namen »Universität für angewandte Kunst« nach
wie vor existiert. In erster Linie ist hier Josef Hoffmann zu nennen, der mit dem als Ge-
samtkunstwerk konzipierten Palais Stoclet in Brüssel, ( 1906–1911 ) auch internationale Be-
kanntheit erlangte, aber auch Otto Prutscher, der neben Möbeln und kunsthandwerkli-
chen Gegenständen etliche Geschäftsportale in Wien entwarf, wie beispielsweise jenes
für das Geschäftslokal P. & C. Habig, eine »k. u. k. Hofhutfabrik« in der Wiedner Haupt-
straße im 4. Wiener Gemeindebezirk um 1910.
Hermine sprach zunächst bei Josef Hoffmann vor. Hoffmann hatte sich bereits einen
guten Ruf nicht nur als Architekt, sondern auch als Mitbegründer der »Wiener Werk-
stätte« erworben, wo er zahlreiche kunstgewerbliche Gegenstände wie Schmuck, Möbel,
Geschirr etc. entwarf. Charakteristisch für Hoffmanns Arbeit war eine orthogonal struk-
turierte Formensprache, die ihm auch den Spitznamen »Quadratl-Hoffmann« einbrach-
te, sowie die Bevorzugung der Farben Schwarz und Weiß. Hoffmann erkannte das Talent
Hermines, aber sein Purismus, der das Experimentieren mit unterschiedlichen Farben
und Formen weitgehend ablehnte, ließ sie bald einen anderen Mentor suchen, den sie
in Otto Prutscher fand. Im Rahmen ihrer Ausbildung hatte Hermine auch eine Prüfung
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Untertitel
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Autor
- Inge Scheidl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Revolte und Reife 8
- Eine Künstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- Architekturentwürfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Übergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen für uns 230
- Sehnsucht nach Österreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273