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Die Schlacht von Lemberg 049
blutüberströmter Kavallerist wird eben von einem Bauernwagen gehoben und einge-
bracht. Das waren die ersten Verwundeten und auch die ersten Merkmale des nahen
Kampfes, bis dahin dachte ich noch längst nicht ein Schlachtfeld und Blut so bald zu se-
hen; nun plötzlich steht es nahe vor mir, also ist es wirklich so ernst und der Gegner so
nahe. Der Aufenthalt in diesem Raume war mir unerträglich und von starkem Eindruck,
rasch verließ ich mit einer Reservelampe, die ich erhalten hatte das Haus; der Gedanke
aber hielt mich noch lange zurück.
Die folgenden Stunden jagen ununterbrochen Eskadronen durch die stockfinstere
Ortsstraße, an der Division vorbei; sie jagen hinaus gegen den Feind. Um 1Uhr 45’ v.m.
trifft die Nachricht ein, Weg passierbar. Als alle Kavallerie passiert treten auch wir den
Marsch an durch den finsteren Ort; draußen in der Landschaft ist es schwach Mondhell.
Antritt des Marsches um 3 Uhr morgens; alle Lichter gelöscht, geräuschlos. Schwacher
Mondschein, tiefe Sandwege durch Wälder; bald erkennt man den ersten Dämmerschein.
[ … ] So geht der fast unheimliche Marsch bis die Dämmerung alles hellt und wärmt. Aber
auch da muss nach allen Seiten Vorsicht walten, denn feindliche Kavallerie oder Kosaken
sind nun überall und zu jeder Zeit zu erwarten.
Als eine der ganz wenigen Textstellen in Rolfs Feldtagebuch vermittelt der erste Teil die-
ser Passage einen Eindruck von der emotionalen Betroffenheit, der sich Rolf trotz seiner
sachlich-beobachtenden Grundhaltung zumindest am Beginn der Kriegsgeschehnisse
doch nicht entziehen konnte, da ihm der – noch ungewohnte – Anblick der Verwunde-
ten offenkundig zu schaffen machte. Allerdings ist Rolf von Anfang an darauf bedacht,
subjektive Erfahrung von objektivierbaren Fakten sorgfältig zu unterscheiden, was zu-
nächst sogar im formalen Aufbau seines Tagebuchs Niederschlag fand. So beinhalten
zu Beginn seiner Tagebucheinträge die rechten Seiten das »dienstliche Tagebuch«, in
dem Rolf minutiös die eingetroffenen Befehle, die resultierenden Truppenbewegun-
gen mit genauen Uhrzeit- und Ortsangaben, die wechselnden Zusammenstellungen
der Kolonnen und zum Teil auch die Namen der Kommandanten dokumentiert. Insge-
samt verzeichnet Rolf auf diese Weise rund 200 Orte, die er im Zuge der Kriegshand-
lungen bzw. der Rückzugsgefechte und Gegenangriffe passiert hat, und ergänzt diese
Ortsangaben um die Zuweisung der Zielräume für die Beschießung mit genauen »Ko-
ten«, d. h. Höhenpunkten. Wenn Kampfhandlungen erwartet wurden, zeichnete er de-
taillierte Skizzen der Orte, der umliegenden Häuser, Straßen sowie Flüsse, er vermerkt
die Positionierung der Batterien und die strategisch relevanten Bezugspunkte der feind-
lichen Zielräume. (Abb. 27)
Die linken Seiten des Feldtagebuchs waren demgegenüber als Raum für persönliche
Aufzeichnungen gedacht beziehungsweise, wie Rolf betont, der Wiedergabe »privater
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Untertitel
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Autor
- Inge Scheidl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Revolte und Reife 8
- Eine Künstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- Architekturentwürfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Übergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen für uns 230
- Sehnsucht nach Österreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273