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»Durch Landesbewohner verraten« 061
28. Aug. Um 10 Uhr n.m. falscher Alarm ( wir lagen schon in einem Strohschober ) daß
Kosaken hier seien; in allen Richtungen wird geschoßen; die Division bleibt jedoch voll-
kommen ruhig. Die Trains, die abends die Straßen nach Przewodow füllten kommen
in voller Flucht zurück, die eigene Kavallerie wird allseits beschoßen, Herden losge-
rissener Pferde jagen an uns vorüber. Nach einer Stunde wird Ruhe und alle Offiziere ar-
beiten die Nacht, um ihre Abteilungen wieder zu versammeln und die Abgänge festzu-
stellen. Kosaken sollen gar nicht gewesen sein, es scheint, daß die Panik durch gekaufte
Trainfuhrleute und Spione mit Absicht hervorgerufen wurde.
Die katastrophalen Folgen dieser Aktion erfährt man aus Rolfs Tagebucheintragung
vom 29. August:
Am Marsch [ nach Przewodow ] schauerliche Bilder; ein großer Hilfsplatz auf offenem
Felde mit zahllosen Verwundeten; einzelne Todte auf den Feldern; ringsum liegen tod-
te Kavalleriepferde in den Feldern; neben der Straße und in den Gräben zertrümmer-
te Bauernwagen, Fahrküchen, zerbrochene Materialien und einzelne Waffen; alles von
der nächtlichen Szene.
Wurden vermeintliche Verräter gefasst, so wurden sie ohne Prozess und damit unter
Missachtung des bestehenden Völkerrechts sofort erhängt oder erschossen.11 Auch
über diese Vorgehensweise berichtet Rolf in gewohnt distanzierter, sachlicher Haltung.
Weder lassen seine Formulierungen Rückschlüsse darauf zu, wie er als akademisch ge-
bildeter Architekt oder als Offizier moralisch zu dieser Vorgangsweise der k. u. k. Armee
stand, noch werden Aggressionen oder Wut gegenüber der heimischen Bevölkerung an-
gesichts der ständigen latenten Bedrohung spürbar. Selbst in diesen menschlichen Ext-
remsituationen bleibt Rolf also der nüchtern-ausgewogene Chronist der Ereignisse um
ihn her.
Am 30. August vermerkt er in seinem Tagebuch: »Vormittags beim Durchmarsch
durch Liski wurden eben 6 Spione (
darunter auch Weiber
) erhängt und sofort einge-
scharrt; Feuer aus Häusern
!« Bereits am 1. September berichtet er wieder über einen ähn-
lichen Vorfall: »Frühmorgens werden in Nowosielki 3 Spione erhängt«. Von einer gleich-
sam ungewollten Sanktion schreibt er am gleichen Tag: »Bei der Beschießung des Raumes
nördlich Poturzyn soll eine Ekrasit-Granate in eine Gruppe von Ortsbewohnern, die an
der nördlichen Ortslinie versammelt waren, um den Russen optische Signale zu geben,
11 In der Haager Landkriegsordnung 1907 heißt es in Art. 31: Der auf frischer Tat ergriffene Spi-
on kann nicht ohne vorausgegangenes Urteil bestraft werden.
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Untertitel
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Autor
- Inge Scheidl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Revolte und Reife 8
- Eine Künstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- Architekturentwürfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Übergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen für uns 230
- Sehnsucht nach Österreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273