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Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 093
Kriegsgefangenen während der Transporte sowie über die soliden Bedingungen, die in
den Gefangenenlagern herrschten. Vor allem aber beschreibt Karner die Aktivitäten, mit
denen sich die Offiziere die Zeit während der Gefangenschaft vertrieben. Er schreibt über
Musik- und Theateraufführungen, über sportliche Betätigungen, über zahlreiche Kurse,
in denen sich die Offiziere weiterbilden konnten, und die Büchereien, die zur Verfügung
standen. Nicht zuletzt erwähnt er auch die Gärten, die sich die Gefangenen anlegen konn-
ten. Wenngleich diese Aktivitäten weitgehend erwiesen sind, so muten Karners Schilde-
rungen doch verblüffend idyllisch an und erzeugen eine stark verklärende Wirkung. Sich
dessen bewusst werdend, sieht selbst Karner sich zu der Bemerkung veranlasst, dass, »um
nicht missverstanden zu werden, noch einmal hervorgehoben werden muss: beneide nie-
mand den Kriegsgefangenen.« (
S. 48
) Vor allem aber räumt Karner ein, dass er bewusst
Lücken in der Berichterstattung gelassen habe, um die Angehörigen von Kriegsgefan-
genen, die noch nicht heimgekehrt seien, nicht zu beunruhigen. Als Konsequenz daraus
entsteht allerdings ein Text, der sich fast schon wie der Bericht eines etwas spartanischen
Kuraufenthalts liest. Der Erste Weltkrieg mit all seinen Gräueln und Folgen hingegen ver-
kommt zur Kulisse, die nur mehr als beiläufiger Anlass dieses »Kuraufenthalts« fungiert.
Angesichts dieser Kriegsgefangenenliteratur wirken Rolf Geylings Aufzeichnungen aus
der Gefangenschaft geradezu sonderbar verhalten. Der sprachliche Duktus ähnelt dem
seines Kriegstagebuchs, indem er durchwegs sachlich, nüchtern, ja bisweilen geradezu di-
stanziert von den Vorgängen um ihn her berichtet. Im Gegensatz zu anderen publizierten
Tagebüchern verzichtet Rolf dabei durchwegs auf weitschweifige Ausführungen und lie-
fert somit eine weniger bilderreiche, aber weitaus präzisere, protokollhaft festgehaltene
Darstellung der Situation. Inhaltlich werden allerdings auch bei ihm bestimmte Aspekte
des Lagerlebens ausgespart bzw. konsequent nicht thematisiert. Nur selten beispielswei-
se lassen einzelne Äußerungen auf die große psychische Belastung schließen, der er in-
folge einer so lang andauernden Gefangenschaft ausgesetzt war und die sich nicht zu-
letzt in einer gewissen Gereiztheit gegenüber seinen Mitgefangenen äußerte. Aber auch
der ungeheure Tatendrang, in den erst spätere Schreiben von ehemaligen Kameraden
Einblick gewähren, findet in Rolfs eigenen Aufzeichnungen kaum Niederschlag. Einzig
die Sorge um seine Frau und seine Tochter findet sich nun mehrmals in Rolfs Tagebuch
verzeichnet, wenngleich er diese Sorgen stets nur in wenige, knappe Worte fasst, und
auch die Sehnsucht nach seiner Familie bleibt mehr erahnbar, als sie in Worten erscheint.
Einen ausgezeichneten Einblick in die tatsächliche Situation der Gefangenen in Sibi-
rien gibt vor allem das Werk von Elsa Brändström mit dem Titel »Unter Kriegsgefange-
nen in Russland und Sibirien 1914–1916«, das 1927 erschienen ist. Elsa Brändström hielt
sich als Krankenschwester fünfeinhalb Jahre teilweise privat, teilweise als Delegierte des
Schwedischen Roten Kreuzes in verschiedenen Gefangenenlagern auf und gewann auf
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Untertitel
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Autor
- Inge Scheidl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Revolte und Reife 8
- Eine Künstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- Architekturentwürfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Übergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen für uns 230
- Sehnsucht nach Österreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273