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Die Jahre in Sibirien 135
3. Mai Die ersten warmen Tage. Nur nachts noch starker Frost. Einige Grasspitzen zu se-
hen. Letzte Zeit ist wieder Alkohol aus der Mandschurei so viel zu haben als man will. Die
russischen Polizisten verkaufen ihn und bieten sich überall an. Im Dienst nehmen sie ihn
weg und außer Dienst verkaufen sie ihn wieder. Letzter Zeit einige Nachrichten von zu-
hause, auch das Paket ( 8. 12. aufgegeben ) von Greta ist angekommen.
Und dem folgt der ebenso kurze wie erschütternde Eintrag:
8. Mai + Maria Margarete +
Rolf hat diesen Hinweis nachträglich an dieser Stelle eingefügt, denn er erhielt die Bot-
schaft vom Tod seiner Tochter erst am 17. Juni, wie der entsprechende Tagebucheintrag
belegt. Die tragischen Begleitumstände des Todes von Rolfs Tochter, die zugleich die
unglaublichen Zustände im Kriegsjahr 1916 auch im Hinterland offenbaren, sind anhand
der Erinnerungen bzw. Briefe von Rolfs Frau Hermine minutiös nachvollziehbar:
Maria Margarete, zumeist »Maja«, von Rolf jedoch stets »die Kleine« genannt, wur-
de am 4. Februar 1914 als gesundes Kind geboren. Nach rund einem Jahr bekam das
Kind plötzlich hohes Fieber, aber der Arzt konstatierte nur eine Grippe. Nachdem sich
nach einer leichten Besserung erneuert Fieber eingestellt hatte und das Kind äußerst
schwach war, zog die Mutter einen anderen Arzt zu, der eine Lungenentzündung fest-
stellte. Bei einer Röntgenuntersuchung wurde ein Eiterherd auf der Lunge in der Nähe
des Herzens entdeckt und für eine eventuelle Operation eine Punktierung durchge-
führt, bei der jedoch keine Eiterflüssigkeit festgestellt wurde. Erstaunlicherweise erholte
sich die Tochter auch wieder, nur um bald darauf erneut schwächer zu werden. Wiede-
rum vermuteten die Ärzte eine Eiterherdbildung und ordneten eine neuerliche Rönt-
genuntersuchung an.
Da die Mutter, Hermine, zu diesem Zeitpunkt an einer fiebrigen Angina litt, übernah-
men ihre Mutter und ihr Bruder die Aufgabe, das Kind ins Spital zu bringen. Dort wurde
es geröntgt und anschließend der Großmutter übergeben. Hermines Bruder Ernst woll-
te gerade das Kind übernehmen, als er mit den Haaren in blank liegende Drähte geriet,
die von der an der Decke angebrachten Stromleitung herabhingen. Er stürzte mit kon-
vulsivischen Zuckungen des ganzen Körpers zu Boden, und alle Aufmerksamkeit des
medizinischen Personals konzentrierte sich sofort auf ihn. Als der Arzt sich wieder Maria
Margarete zuwandte, musste er feststellen, dass das Kind während dieses Vorfalls ver-
storben war. Die Großmutter wurde sofort mit der Kleinen aus dem Haus gewiesen, um,
wie Hermine vermutete, nicht eine Autopsie durchführen zu müssen. Auch Ernst wurde
umgehend entlassen, kaum dass er sich wieder auf den Füßen halten konnte, und er so-
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Untertitel
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Autor
- Inge Scheidl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Revolte und Reife 8
- Eine Künstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- Architekturentwürfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Übergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen für uns 230
- Sehnsucht nach Österreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273