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Kriegsgefangenschaft 154
katastrophalen Versorgungslage litt. Nicht zuletzt diese beiden Faktoren bildeten den
Nährboden für die beiden russischen Revolutionen im Jahr 1917, die zum Ende der Za-
renherrschaft führten.
Die Februarrevolution mündete vorerst in eine bürgerliche Regierung, die jedoch
noch keine Friedensverhandlungen mit den Kriegsgegnern führte. Erst unter der bol-
schewistischen Regierung, die nach der Oktoberrevolution im November 1917 an die
Macht gekommen war, wurde der Kriegszustand zwischen den Mittelmächten und der
Sowjetregierung mit der Unterzeichnung des Friedens von Brest-Litowsk am 3. 3. 1918
beendet.
In Rolfs Leben änderte sich durch diese geopolitisch bedeutsamen Ereignisse vorerst
nicht allzu viel. Fast spurlos gingen die ungeheuren Umwälzungen zunächst am Alltag
der Kriegsgefangenen in Sibirien vorüber, wie Rolfs spärlichen Eintragungen zu entneh-
men ist. Erst mit dem voll entbrannten Machtkampf zwischen »Roten« und »Weißen«
Garden im Jänner 1918 sollten die politischen Ereignisse auch für die Gefangenen in Si-
birien unmittelbar spürbar werden.
1. Aug. Immer das gleiche einförmige Leben, mit stiller Hoffnung und neuer Enttäuschung.
Immer neue Schikanen und Gemeinheiten von Seiten der Russen. Von der russischen Re-
volution blieben wir bis nun ziemlich unberührt, nur sind jetzt die Soldatenkomitees am
Ruder und da machen Komitees und Oberst gegenseitige Bosheiten, was natürlich im-
mer zu unserem Schaden ausschlägt. So sind wir vor zwei Wochen aus unseren Quar-
tieren wo ich zwei Monate schön alleine eine Küche bewohnte und arbeiten konnte, in
Kasernen gesteckt worden. Je hundert Offiziere in einem Mannschaftssaal, kaum Platz
zum Bewegen. Der Platz zum Spazieren sehr klein, aber wir betreiben fleißig Sport. Ver-
pflegung ganz ungenügend. Pro Kopf und Monat sollen wir 1 Pfund Mehl und ⅓ Pfund
Fett bekommen; Fleisch pro Woche 1 Pfund, sonst nur Brot in halbwegs genügender
Menge. Leider bekommen wir auch diese vorgeschriebene Menge meist nicht, mit der
Ausrede: »Es gibt’s nicht
!« Am Wasser mangelt es am meisten, so dass durch schlech-
tes Wasser schon Darmepidemie droht.- Im Februar noch durften wir zweimal gruppen-
weise 1 Stunde außerhalb spazieren gehen. Im Februar verstarb uns ein Kamerad Lt. Ka-
resztis. Heute beerdigten wir unseren lieben Kameraden und Bibliothekar Oblt. Czullik.
Ergreifendes Begräbnis. – Post sehr schlecht, recht selten, immerhin kürzlich einen Brief
von Mädi, wo sie endlich wieder heiter wie einst und tapfer vertrauend scheint, das ist
mir der schönste Trost !
Anfang September Nachts plötzlich Hausdurchsuchung, die Russen nehmen da Zucker,
dort Winterwäsche. Nach was sie suchen ist nicht bekannt geworden, aber nachher feh-
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Untertitel
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Autor
- Inge Scheidl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Revolte und Reife 8
- Eine Künstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- Architekturentwürfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Übergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen für uns 230
- Sehnsucht nach Österreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273