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Kriegsgefangenschaft 166
In einem der wenigen erhaltenen Briefe aus dieser Zeit schrieb Rolf im Juni 1919 an sei-
ne Frau: »Und nun geht es uns ja überhaupt recht gut; wir haben alles Nötige, nur die
Freiheit fehlt uns, und das Eine – die Heimkehr. Mir besonders geht es gut, ich arbeite
etwas beruflich für ein japanisches Kommando und komme daher viel hinaus aus den
verhassten Stacheldrähten. Was meine Gesundheit betrifft kann ich auch nur wünschen,
dass ich in aller Zukunft so wohl sei als in den Zeiten der Gefangenschaft. Bisher war
ich nur einmal krank: Heuer im Frühjahr war auch hier die Epidemie der spanischen In-
fluenza; Ihr scheint sie Grippe zu nennen. Ich hatte mich bei einer Brunneninstandset-
zung etwas verkühlt und da packte sie mich auch. Ich musste wie Alle sofort ins Isolier-
spital, aber nach einer kräftigen Schwitzerei konnte ich schon am 5. Tag wieder Anderen
Platz machen.«
Der Brief zeugt nicht nur von Rolfs bemerkenswerter Gesundheit nach so vielen Jah-
ren Haft und Entbehrung. Er verweist auch auf dessen charakteristische Fähigkeit im An-
bahnen beruflicher Kontakte in einem fremden Umfeld sowie insbesondere auf seinen
außerordentlichen Pragmatismus, der es ihm ermöglichte, sich sogar in Gefangenschaft
zufrieden in seinem Architektenberuf einzurichten. Sein ungebrochenes Selbstbewusst-
sein, das auch die lange Gefangenschaft nicht brechen konnte und das zu seiner beruf-
lichen Etablierung wesentlich beigetragen haben dürfte, zeigt sich deutlich auf einem
Foto, das ihn mit einer Gruppe von Bauarbeitern darstellt, die sich aus der Reihe der Ge-
fangenen freiwillig gemeldet hatten. Alleine seine Kleidung, die er sich wahrscheinlich in
Wladiwostok kaufen konnte, macht dies deutlich. (Abb. 72)
Allerdings tritt erstmals seit Längerem auch wieder Rolfs Hang zum Einzelgänger-
tum hervor, indem er im gleichen Brief formuliert: »Ich wohne jetzt mit einem Kame-
raden aus Kronstadt zusammen, [ … ] Wir haben uns wieder von der Masse losgemacht
71 Baracke im Lager
Perwaja Rjetschka
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Untertitel
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Autor
- Inge Scheidl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Revolte und Reife 8
- Eine Künstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- Architekturentwürfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Übergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen für uns 230
- Sehnsucht nach Österreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273