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China 176
folgenden Tag vor vollendete Tatsachen gestellt. Allerdings war man bei der Gebiets-
wahl für die österreichisch-ungarische Konzession eher glücklos: Rund drei Viertel der
Fläche waren mit einheimischen Häusern verbaut, und für die Neuankömmlinge blieb
kaum Platz bzw. gestalterischer Spielraum für Neubauten, wie etwa Wohnbauten, La-
gerhäuser und Betriebsstätten.
Im Gegensatz zu den anderen europäischen Groß- und Mittelmächten hatte Öster-
reich-Ungarn allerdings im Prinzip ohnedies keine kolonialen Ambitionen, und der Er-
werb der Konzession in Tientsin war vor allem eine Prestigefrage gewesen. Es fehlten
Kapital, eine leistungsstarke Flotte und vor allem auswanderungswillige Personen. Wie
O. Nemecek in einem Aufsatz im Jahr 1912 beklagt, war man in der Monarchie über das
Bestehen der Konzession auch kaum unterrichtet. »Umsoweniger kennen und würdi-
gen die [ kommerziell und geografisch interessierten ] Kreise die Bedeutung und Ent-
wicklungsmöglichkeit des okkupierten Gebietes. [ … ] Es kann nicht laut genug beklagt
werden, dass unsere Kaufleute die in Tientsin durch den Schutz der österreichisch-un-
garischen Regierung für den Handel gebotenen Vorteile unbeachtet lassen. Die zuneh-
mende Europäisierung der Chinesen in Kleidung, Einrichtung etc. lässt ein bedeuten-
des Anwachsen des Imports europäischer Industrieartikel erwarten.«42 Nichtsdestotrotz
lebten Ende 1905 erst ca. 60 Angehörige der österreichisch-ungarischen Monarchie in
Tientsin, während gleichzeitig bereits rund 690 Briten und 470 Deutsche den Schritt in
die fernen Konzessionen gewagt hatten. In der Folge ließen sich auch nur wenige Ban-
ken und Firmen der Monarchie in Tientsin nieder, und der Handel Österreich-Ungarns
mit China blieb die ganze Zeit über bescheiden.
Administriert wurde das Gebiet vom jeweiligen k. u. k. Konsul, der in seinen Aufga-
ben unter anderem durch eine kleine militärische Garnison unterstützt wurde. Er war der
höchste Beamte der Konzession und hatte nicht nur die Interessen der Landsleute nach
innen und außen zu vertreten, sondern sich auch um die Handelsbeziehungen zu küm-
mern und den Kontakt zu den anderen Konzessionen herzustellen. Auch bauliche Maß-
nahmen, polizeiliche Agenden etc. fielen in seinen Aufgabenbereich.
Der große wirtschaftliche Einfluss der westlichen Mächte ließ China zunehmend in
eine halbkoloniale Anhängigkeit geraten. Ein deutlicher Prestigeverlust des Kaiserhau-
ses war die Folge, und im Jahr 1912 wurde schließlich die Republik China mit Sun Yet-
Sen als erstem Präsidenten ausgerufen. Konflikte um die politische Führung der jungen
Republik ließen jedoch das Land weiter nicht zur Ruhe kommen. Trotz der inneren Wir-
ren trat China im Jahr 1917 sogar in den Ersten Weltkrieg ein, ohne allerdings die Ab-
42 O. Nemecek: Das österreichisch-ungarische Settlement in Tientsin. In: Jahresbericht der Neu-
en Wiener Handelsakademie. Wien 1912, S. 97–104. S. 97
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Untertitel
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Autor
- Inge Scheidl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Revolte und Reife 8
- Eine Künstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- Architekturentwürfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Übergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen für uns 230
- Sehnsucht nach Österreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273