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den in jeder Hinsicht [  …  ] und es wäre töricht irgendwie hemmend dazwischenzutreten,
da ich ihm damit nur mehr an Sorge und Last aufbürde. Somit heißt es mit [  …  ?  ] ganz
alleine fertig werden und Rolf soviel als möglich abnehmen, und dies tue ich am besten,
wenn ich ihm ein immer gleichmässig und freundliches Gesicht zeige. – Dies ist ja wohl
fĂĽr ihn dann wahre Erholung und wenn er mir dann Mittags eine Stunde der Aufmerk-
samkeit widmet, so bin ich es zufrieden und verbringe meinen Nachmittag frohgemut
bei irgend einer Arbeit.« Deutlich zeigt sich in diesen Zeilen Hermines ehrliches Bemü-
hen, die Situation zu meistern, deutlicher kommt allerdings ihre wahre Stimmungslage
zum Ausdruck, wenn sie ihren Eindruck von der Stadt schildert: »Tientsin ist ein ödes
ödes Nest, bietet gar nichts an Naturschönheit – nicht einen anständigen Baum sieht
man hier, Staub in Massen und der Paihokanal, meine einzige Hoffnung entpuppte
sich als eine träge dahinfliessende lehmige gelbe Flut. – So muss man also ›die Natur‹
diesen wichtigen Faktor – der uns Europäern soviel Anregung und Erholung bedeu-
tet ganz ausscheiden – bleibt also dies Interesse für’s Fremde, für’s Chinesische. – Nun
auch darin ist Tientsin stiefmütterlich dran, es gibt hier nicht viel zu sehen – die Chine-
senstadt ist wohl unendlich gross, aber warst Du einige Male drinnen so bist du damit
vertraut und abgestumpft. Ăśberdies machte es mir absolut keinen besonders neuen
Eindruck – unser Colentina [  ein Stadtteil  ] in Bukarest bietet ein ähnliches Bild nur kann
ich mit ruhigem Gewissen sagen, dass es weit sauberer ist. – Den Schmutz, den Lärm,
den Staub, die engen Gassen die alle ungepflastert sind im echten Chinesenviertel da-
von machst Du Dir keinen Begriff – nur das Volk ist eben eine anderes und auch nicht
mehr interessant genug. Die Männer tragen selten noch Zöpfe und die Frauen schon
viel normale Füsse. Die Costüme sind auch eigentlich einfach zu nennen – bis auf son-
derbare Kopfdekorationen – namentlich bei festlichen Gelegenheiten.« Auch interes-
sante Gebäude und sonstige Sehenswürdigkeiten vermisste Hermine laut ihren Briefen
in Tientsin, und so blieb ihr nur die Hoffnung, dass ihr Mann eines Tages Zeit haben
werde, mit ihr nach Peking zu reisen. Als Zerstreuung blieben einstweilen die Geschäf-
te in der Altstadt, der sogenannten Chinesenstadt, aber auch da suchte Hermine ver-
geblich »Gutes und Gediegenes«.
Es ist erstaunlich, dass Hermine – die in Wien bei Rolf einen Architekturkurs absol-
viert hatte – der chinesischen Architektur nicht aus fachlichem Interesse mehr abge-
winnen konnte und die traditionellen Hauptwerke in Tientsin mit keinem Wort in ihren
Briefen erwähnt. Im Gegensatz zu ihrer Meinung, dass Tientsin keine Sehenswürdigkei-
ten bot, gab es nämlich in der chinesischen Altstadt sehr wohl auch original chinesische
Bauwerke zu besichtigen. Möglicherweise trübte jedoch Hermines unermessliches Heim-
weh ihren Blick und lähmte jegliche positive Anteilnahme an der fremden Stadt, so wie
sie auch ihren ersten Brief in die Heimat erst drei Monate nach ihrer Ankunft schreiben
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Untertitel
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Autor
- Inge Scheidl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Revolte und Reife 8
- Eine KĂĽnstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- ArchitekturentwĂĽrfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Ăśbergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen fĂĽr uns 230
- Sehnsucht nach Ă–sterreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273